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Hauptsatz: Die Eskimos haben ja 90 verschiedene Worte für Schnee

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Jaja, ich weiß schon, man sagt heute statt Eskimos angeblich besser Inuit oder eigentlich noch korrekter: Original-Kaltgebietsmenschen. Aber damit wäre der ganze Satz doch nur noch halb so geheimnisvoll, deswegen schreibe ich jetzt weiter von Eskimos, sorry Inuits! Also, ich finde das ja vollkommen faszinierend, 90 Worte für Schnee! Allein diese gerade Zahl! Hat da der eine Eskimo zum anderen gesagt: „Du, pass’ auf, jetzt haben wir schon 89 Worte für Schnee, jetzt machen wir halt noch eines, dann ist es rund.“ Das heißt, ehrlich gesagt, wenn man wie ich diesen Hauptsatz über die Jahre verfolgt, dann wird man feststellen, das die Zahl der Worte, die Eskimos für Schnee haben sollen, ganz schön variiert. Manchmal sind es über hundert! Oder manchmal ist zum Beispiel auch von 90 Worten für Eis die Rede, nicht für Schnee. Da muss ich bei den Leuten, die mir das erzählen immer nachfragen. „Echt, auch 90 Worte für Eis? Ich dachte immer nur für Schnee!“ Dann überlegen die Eskimospezialisten kurz und sagen ziemlich sicher: „Nein, auch für Eis.“ Beinahe wären sie auf ihrem eigenen Eis ausgerutscht, aber so gibt es jetzt eben 90 Worte für Schnee und für Eis.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Dass dieser Satz seit Jahren so beliebt ist wie ein kleines Steak, hängt mit dem romantischen Ethno-Schauer zusammen, den er verströmt. Ich meine, gibt es was Poetischeres als die Vorstellung von einer Eskimofamilie, die im Iglu sitzt und aus dem Iglufenster nach draußen in die Eiswüste schaut? Wo dann das Eskimokind an den Frostgardinen hochklettert und sagt: „Guck mal, es schneit!“ Und diesen Satz wiederholt die ganze Eskimofamilie im Kreis, nur eben nimmt jeder dabei immer ein anderes Wort für Schnee. Ist das nicht wunder-, wunderschön? Diese Prozedur dauert zwar zwei Stunden, aber viele Eskimokinder, die heute als Erwachsene in Städten wie Oldenburg oder Turin leben, erzählen, dass diese Schnee-Gespräche das Schönste in ihrer Kindheit waren. Und dass der Eskimo-Oma immer das 90. Wort für Schnee nicht eingefallen wäre und der Eskimopapa immer zwischendurch eingeschlafen sei. Nett! So oft man allerdings Menschen oder deutsche Fernsehfilme trifft, die verzückt diesen Satz verkünden, so selten trifft man welche, die wirklich schon mal durch Eskimoland geschlittert sind. Aber eigentlich ist das auch gut so, denn am Ende würden diese reisenden Wahrheitsfanatiker doch alles kaputtmachen. Man stelle sich vor, die kämen aus dem ewigen Eis zurück und würden ihren Freunden auf dem nächstbesten Kino-Open-Air dann berichten, dass die Eskimos von heute nur noch 14 Worte für Eis haben. Oder dass die Worte für Eis und Schnee zusammengelegt wurden und sich da oben am Pol jetzt überhaupt niemand mehr auskennt! Wären das nicht grässliche Nachrichten, denn schließlich, was bliebe schon übrig von unserem Eskimo-Wissen, wenn das mit den Worten für Schnee wegfällt? Und was sollten wir denn dann sagen, wenn wir in romantischer Stimmung sind? Nein, die Eskimos müssen das mit den 90 Worten für Schnee unbedingt weiter betreiben, sie sollten in der Eiswüste Souvenirsäulen aufstellen, die nach Münzeinwurf alle diese 90 Worte runterrattern. Vielleicht kann man das Ganze ja auch unter UNESCO-Schutz stellen, so als erhaltenswerten Mythos? Gerade jetzt wäre das doch wirklich wichtig, wo doch der Klimawandel zuschlägt. Dann könnten wir unseren Enkeln in fünfzig Jahren immerhin noch sagen: „Also, die Eskimos hatten mal 90 Worte für etwas, das ihr gar nicht mehr kennt!“

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