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Hauptsatz: "Ich glaube, das kann man schon noch essen."
Meine Eltern versichern mir auf Nachfrage glaubhaft, dass ich als Kind an keiner einzigen Bombennacht teilgenommen habe. Die längste Hungersnot, die ich je unter ihrem Dach zu erleiden hatte, siedelten sie im einstelligen Stundenbereich an. Frieden und Überfluss prägten ihren Schilderungen zufolge mein Leben seit meiner ersten persönlichen Zellteilung. Es ist also nicht leicht einsehbar, warum mich heute Panik befällt, wenn sich einzelne Lebensmittel in meiner Küche anschicken abzulaufen. Dieses Verb finde ich übrigens ebenso seltsam wie es in diesem Zusammenhang unvermeidlich ist. Kommt es aus der Kaufmannssprache, wo Waren gelöscht werden und Frischkäse abläuft? Jenseits von Flüssigkeiten laufen doch sonst nur Ultimaten und Countdowns ab, da knallt es dann meistens, weil die Rakete, Bombe oder eben eine Lösegeld-Aktion mit Schießen losgeht.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der Countdown auf dem Joghurt in meinem Kühlschrank läuft aber sehr still und unmerkbar ab, noch dazu immer mitten in der Nacht. Am nächsten Morgen greife ich danach und das ausgestanzte Kainsmal am Deckelrand verkündet eiskalt seinen Ablauf. Natürlich esse ich den Joghurt dann sofort. Weiß ja jeder, dass man das Zeug noch ewig schadfrei zu sich nehmen kann, kein Problem. Aber es ist ein anderes Essen, dieses Verspeisen von Nahrung, die offiziell nicht mehr Nahrung sein darf. Vor dem Auslöffeln muss ich den alten Quark erst mit einem extra dafür bereit stehenden Blick streng fixieren. Er offenbart dabei nie etwas anderes als industriell abgefüllte Oberfläche, von der ich mir dennoch einbilde, dass sie erste Anzeichen einer keimenden Unruhe aufweist. Schunkelnde Bakterien sehe ich dabei zwar nie, aber nach Kontrollblick und einem alarmierenden Kontrollgeschnüffel (Ewige Frage: Riecht das wirklich immer so?), kann ich sie quasi schon mit Händen greifen, die Bakteriengeschwader. Deswegen schnell runter damit, in die hochsterile Laborfläche die ich unter dem Codewort "Magen" ständig mit mir herumtrage. Der Verzehr von Abgelaufenem ist ein skeptisches, hastiges Essen, bei dem ich mich fortlaufend danach sehne, Dinge zu essen, die nicht abgelaufen sind. Es ist kein Genuss, sondern Vernichtungsarbeit. Danach bin ich zufrieden aus einem eher banalen Grund: Ich habe etwas gegessen, bevor es niemand mehr essen kann, habe 150 Gramm Brei seiner Bestimmung zugeführt und sie nicht verkommen lassen. Soweit, so leicht neurotisch. Allerdings gerate ich regelmäßig auch in Extremsituationen, denn von ausschweifenden Mahlzeiten sammeln sich bei mir laufend halbvolle Töpfe und Schüsseln mit Nudeln, Brotkanten und Fischsuppe. All diese wertvollen Überbleibsel schichte ich zunächst sorgsam und artgerecht verpackt in meinen Kühlschrank und trage in meinem Kopf ständig Listen mit den Ablauffristen dieser Essensreste mit mir herum. Diese Listen sind so komplex, dass ich bestimmt ein leitender Logistiker in einem Lebensmittelunternehmen werden könnte, wenn ich sie nur mal ausdrucken und in eine Bewerbunsgmappe legen würde. Jedenfalls gehen nach drei Tagen die Sirenen und ich stelle fest, dass ich alle Reste sofort essen muss. Dann sitze ich, obwohl ich eigentlich das Haus in Richtung Restaurant verlassen wollte, vor dem Kühlschrank und schichte das ganze Zeug wieder um: aus den Fächern, in mich rein. Dabei flüstere ich ständig zur eigenen Beruhigung den Hauptsatz, während ich Nudeln und kalte Soßen, schrumplige Hühnerbeine und komische Kartoffelsalate vor dem Mülleimertod rette. Es geht dabei gar nicht unbedingt um den Hunger in der Welt, sondern um ein unbestimmtes Schuldgefühl den Dingen gegenüber. Als würden sie mich aus dem Mülleimer noch klagend ansehen und sagen: "Erst kochst du uns und jetzt Adieu im Müll?" Schreckliche Vorstellung! Dann doch lieber den Hauptsatz, Nase zu, Mund auf und durch. Hat bis jetzt noch nie geschadet. Wobei diese Fischsuppe von vorhin doch wirklich schon ganz sch . . .