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"Jetzt mal ganz ehrlich gesagt"

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Ich warte auf den Abend, an dem Tom Buhrow in den Tagesthemen den Satz spricht: "Und jetzt kommt, mal ganz ehrlich gesagt, das Wetter mit Sven Plöger." Da würden sich zwar die Sprachpäpste anderntags ordentlich echauffieren (oder was ist das korrekte Tun-Wort für Sprachpäpste: Erzürnen? Sich in Harnisch bringen?), ich aber würde ruhig bleiben, denn ich habe die Pandemie dieses Satzes seit Jahren mit Sorge verfolgt und davor gewarnt, aber mein Warnen war nur eine Kinderfackel im Sturm. Als ich diesen Hauptsatz das erste Mal hörte, erfüllte er noch weitgehend das, was er versprach, er leitete eine unangenehme Ehrlichkeit ein. Meine Mutter sagte: "Also mal ganz ehrlich gesagt finden wir, dass du dich nicht bis um zwölf am Rathausbrunnen rumdrücken solltest. Und was die anderen dürfen ist mir egal."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

So weit, so ehrlich. Seitdem hörte ich den Satz immer öfter und muss dabei den gleichzeitigem Verfall seiner Brisanz feststellen. Wenn sich heute Zwei mal ganz ehrlich etwas zu sagen haben, ist das meistens nichts anderes, als was sie sonst gesagt hätten. Sie versuchen es nur durch den vorgeschobenen Halbsatz ein bisschen interessanter zu machen. Das klingt dann so: "Hey, jetzt mal ganz ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nicht, warum auf Mülltonnen immer der Satz steht, dass man keine heiße Asche einfüllen soll!" - "Ey du, ganz ehrlich, das frag ich mich auch immer!" Es gibt sie eben nicht mehr selbstverständlich, die guten, ehrlichen Dinge. Es gibt stattdessen das "ganz ehrlich", das als Discountware durch unsere Alltagssprache wabert. Dort erfüllt es mittlerweile Allroundaufgaben, schlimmer als ein Opel Kombi. Ganz ehrlich, ich bin auf dem Weg zum Flughafen, ganz ehrlich, ich glaub der Tisch da ist schon noch frei, ganz ehrlich, das ist mir jetzt ein bisschen zu ehrlich. Der ganzehrlich-Trend ist ein wenig traurig. Wir ahnen offenbar, dass wir ständig Gefahr laufen, unwahren Plastiksprech abzusondern, so dass wir alles, was wir wirklich anbringen wollen, mit der Aura eines Beichtstuhls versehen müssen. Nur dann hören die Plastikohren der anderen überhaupt noch zu, nur wenn ihnen ungeheuer Wahres versprochen ist. Gleichzeitig ist der Hauptsatz aber auch eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung, dann nämlich, wenn er eine wacklige Meinung kaschieren soll: "Ganz ehrlich, ich finde diese James-Bond-Filme nicht so gut wie alle sagen." In diesem Fall wirkt das "Ganz ehrlich" wie ein Welpenschutz, dann ist der eigene Verstand wie ein Welp und weil man "ganz ehrlich" gesagt hat, darf in den keiner reinbeißen. Denn "Ganz ehrlich" bedeutet eben auch: Schamlos die Mentalhosen runterlassen und so doof sein dürfen wie man vielleicht ist. Schon allein deswegen wäre ein Eindämmen der Ganzehrlichkeit ein hygienischer Akt für die Öffentlichkeit. Denn die schonungslose Aufrichtigkeit von allen Seiten ist doch wesentlich anstrengender als leicht verlogener Meinungsmainstream. Ganz ehrlich.

Text: max-scharnigg - Illustration: Katharina Bitzl

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