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„Morgen ist ja genaugenommen schon heute.“
Sehr empfänglich bin ich für kleine Alltagswunderlichkeiten. Solche Rätsel wie, dass man ganz lange keinen Schluckauf kriegt und dann gleich dreimal an einem Tag oder dass ich immer genau zur vollen Stunde auf die Uhr schaue, sind doch die Schmiermittel, die diesen Planeten so locker seine Hüften durchs Universum schwingen lassen. Den gleichen Wunderschauer erleben mit diesem Hauptsatz vor allem diejenigen, die sich an Tresen von Clubs räkeln und dabei ihre Mitsteher volllabern (vgl. „vollsülzen“, 1981). Fast ausschließlich geht es in solchen Clubgesprächen darum, was diese Menschen morgen alles zu tun haben. Meistens müssen sie nämlich ausgerechnet morgen ganz früh raus und zum Bafög-Amt oder ihre Mutter ins Krankenhaus fahren, weil die sich die Lippen machen lässt und schon gestern deswegen eine Beruhigungstablette genommen hat.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Derart dringende Vorhaben erzählen die Clubtresenmenschen in epischer Breite aus zwei Gründen. Erstens weil sie, wie die meisten, immer noch nicht kapiert haben, dass in Clubs die laute Musik und die bunten Lichter deswegen angeschaltet sind, weil man hier tanzen, etwas zerkratzen oder stumpf rumliegen soll. Man soll jedenfalls nicht stundenlang eindringliche Gespräche führen. Es setzt sich ja auch keiner auf die Tanzfläche und strickt, eben weil das Licht in Clubs dafür viel zu schlecht ist. Geredet wird aber ununterbrochen, obwohl der Ton in Clubs dafür eigentlich auch viel zu schlecht ist. Es gibt auch noch einen zweiten Grund: Berichte darüber, was sie eigentlich morgen zu tun hätten, sollen unterstreichen, dass die anhaltende Präsenz dieser Menschen am Tresen eine echte Gottesgabe ist. Sie wollen klarmachen, wie wagemutig und wider jede bessere Einsicht sie hier stehen und alle vollquatschen, obwohl ihr Zeitfenster doch erkennbar überdehnt ist. Als Zuhörer nickt man brav und zählt mit den Fingern mit, wie viel Zeit dem armen Draufgänger noch bleibt, wenn er jetzt wieder ein Bier bestellt und noch mal sagt: „Ich trinke doch noch eines, dabei muss ich morgen um sieben Uhr…“ Da schlägt der Moment des Hauptsatzes und die Wunderkammer „Gregorianischer Kalender“ geht auf. Denn das was alles morgen sein soll, ist ja laut Uhr schon heute, denn heute ist ja schon morgen, bzw. heute das ist ja schon gestern bzw. jetzt ist ja schon das alles, was sie eigentlich morgen machen sollten und ihre ganze Sätze bisher waren kalendarisch falsch. Pardauz! Alle in der Runde patschen sich wunderlich berührt ans Dekolleté und können es nicht fassen, wie subjektiv sie den Tageslauf mal wieder wahrgenommen haben. Sie denken alle es wäre Abend, dabei ist schon Morgen! Und obwohl das jeden Tag wieder passiert, weil eben die wenigsten um Schlag Mitternacht ihr Licht ausknipsen, wird die Menschheit nicht müde, auf diesen komischen Umstand hinzuweisen. Es schauert eben so schön und wundert so kurz. Übrigens genau wie ich mich immer wundere, wenn ich etwas für 15,32 Euro kaufe und auf einen Fünfzig-Euro-Schein nur einen Zehner und einen Zwanziger rauskriege. Das ist genau der immer gleiche Sekunden-Wunder – aber auch wieder eine andere Geschichte.