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"Sollen die Ohren frei bleiben?"

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Eigentlich wollte ich keine Hauptsätze besprechen, die aus beruflichen Zwängen in die Welt gesetzt werden. Es handelt sich bei ihnen ja gewissermaßen um industriell gefertigte Massenwaren der Rhetorik, ohne menschelnden Reiz. Bei diesem Hauptsatz mache ich eine Ausnahme, weil er mich immer so überrascht, als hörte ich ihn zum ersten Mal.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Seit ich mich kenne, wachsen mir über Nacht Haare auf den Kopf. Sie gebärden sich dort in einer Art, die mich alle fünf Wochen zum Friseur zwingt. Da sieht es so aus, wie sich meine Großtante eine Werbeagentur vorstellt. Es läuft weiche Musik, junge Menschen stehen teilnahmslos an Kaffeeautomaten gelehnt und Licht strahlt ihnen von schräg unten in die enthaarten Nasenlöcher. Sie machen "Gruppe". Wenn ich ankomme, löst sich nach einem lässigen Moment einer aus der Gruppe, schlendert auf mich zu und bedeutet mir mit wegwerfenden Gesten ihm zu folgen. Am Ziel unserer Wanderung steht ein Stuhl, in den ich mich nur setze, um aus ihm heraus ein Beratungsgespräch mit dem Friseur zu führen. Da dieser hinter mich getreten ist, läuft der Dialog über Spiegel. Das ist mir unangenehm, weil ich die Art, wie sich mein Kinn beim Sprechen verformt, nicht schätze und nur ungern live dabei zusehe. Lieber würde ich das Gespräch von Angesicht zu Angesicht führen, rein platzmäßig wäre das möglich. Ich vermute, dass ich vor allem deswegen sitzen soll, weil diese jungen Menschen mit den Scheren allesamt geringwüchsig sind, manche nicht größer als ein Hocker. Ich sage also sitzend in den Spiegel: "Wie immer, fünf Wochen zurückschneiden, Volumen halten, aber das Gestrüpp hier weg und dass es nicht aussieht, als wäre ich frisch vom Friseur." Begleitend fahre ich mir möglichst konstruktiv durchs eigene Haar und versuche Problemstellen zu markieren. Das mit dem Volumen habe ich mir mal an einem Donnerstag ausgedacht, es klingt teuflisch versiert. Mein Friseurchen hüpft währendessen um meinen Hinterkopf und sieht aus wie ein Golfprofi, der das Bodenprofil des Greens abschätzt: Er klemmt die Augen zu Schlitzen, legt die Finger auf die Lippen und ruft manchmal erschüttert "Ha!". Habe ich meine Ausführungen beendet, ist es an der Zeit, dass er mir ungleich sanfter in die Haare geht. Dazu interpretiert er das von mir Gesagte in seinen Worten und macht mit der beruhigenden Art von Schönheitschirugen deutlich, wo gleich Schnitte zu erwarten sind. Dann gräbt er die Ohren aus. "Sollen die frei bleiben?" fragt er. Ich weiß es nicht. Immer nehme ich mir vor, beim nächsten Schnitt darauf zu achten. Freibleibende Ohren? Ich versuche zu erinnern, wer solche hat. Mir fallen nur Soldaten ein, mit Bürstenschnitt und so. Das soll es nicht sein. Also zögere ich, was der Haarmann nutzt, um mir kleine Dächlein über beide Ohren zu zupfen, wie zwei Sprungschanzen. "So lassen?" fragt er scheinheilig. Natürlich nicht. Ohren frei! schreibe ich danach in mein Notizbuch. Leider verliere ich es zwei Tage später in einer Kurve.

Text: max-scharnigg - Illustration: Katharina Bitzl

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