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„Voll retro!“

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Es scheint mir, als ob das Wort „retro“ das Gleiche erleben wird, wie zuvor die Wörter „spießig“ und „Grufti“. Nach einer kurzen Zeit der allgemeinen Akzeptanz, werden diese Ausdrücke nur noch von unseren Eltern benutzt: Papa schlurfte regelmäßig in mein Zimmer und sagte „Na, hörste wieder Grufti-Mucke?“ (Was ich nicht tat). Mama zeigte ihren neuen Henkelkorb und sagte „Findste wieder spießig, oder?“ (Was ich nicht tat). Jetzt sagen beide „Ist doch voll retro!“, wenn sie mir ihre alten Ski andrehen wollen. Ein bisschen haben sie natürlich recht. Retro ist etwas, auf das ich immer noch anspringe wie Kinder auf Pfützen. Dabei ist meine Retro-Lust längst durch alle Formen geschritten. Sie begann mit Begeisterung für Pop-Art, ergötzte sich an Nierentischen und dem Design der Fluglinien in den 60er-Jahren und brandete mangels übriger Dekaden viel später in Jugendstil-Ausstellungen aus. Immer öfter aber finde ich mein angehäuftes Retrozeug unpraktisch, ganz einfach, weil es in meinem High-Tech-Alltag so schlecht performt. Zum Beispiel mein Telefonproblem. Ich habe daheim ein altes Wählscheiben-Telefon. Es sieht im Grau der Deutschen Post nicht nur angenehm clean aus, es hat auch einen schönen Klingelton, heute bekannt als „Old Phone“, der dort aber von einer echten Klingel erzeugt wird. Außerdem scharen sich meine Besucher staunend davor und wollen die Wahlscheibe schnalzen lassen, so dass ich sie manchmal mit einer Hellebarde auseinander treiben muss.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nun aber bin ich gleichzeitig im Besitz eines Mobiltelefons, in dem eine Speicherkarte steckt, die im Laufe ihres Lebens die Nummern meiner Lieben treu gespeichert hat. Mit ihnen würde ich gerne abends an meinem gemütlichen Retro-Telefon reden. Was nun folgt, ist auch im Werksverzeichnis Griechischer Sagen im Kapitel 7, Abschnitt 39, Unterregister „Sisyphos“ zu finden. Ich zücke das Handy und suche die Nummer, die ich mir nicht merke, weil ich sie ja gespeichert habe. Dann wähle ich die ersten drei Ziffern an der alten Wählscheibe, was sehr lange dauert. Unterdessen geht an meinem Handy das Display-Licht aus, um Akku zu sparen. Ich sehe die Nummer nicht mehr. Um das Display-Licht wieder zu aktivieren, muss ich nur schnell eine Taste drücken. Wenn ich aber nur schnell eine Taste drücke, bin ich leider nicht mehr bei der Nummer aus dem Telefonbuch, sondern dort, wo eben diese Taste hinführt, die ich zum Lichtanschalten drücken wollte. Von da navigiere ich wieder zur gesuchten Nummer, halte abermals den Finger an die Wählscheibe – und habe vergessen, welche Ziffern ich bereits gewählt habe. So ein altes Telefon hat ja kein Display, das darauf wartet, bis ich soweit bin. Ich fange also wieder von vorne an, erste drei Ziffern, Handy-Licht aus, Navigieren, nächste Ziffer. Dann kommt eine dreifache Sieben und ich verliere komplett aus den Augen, wie viele Siebener ich schon in die Wählscheibe gezogen habe. Es dauert lange, bis ich auf diese Weise jemanden erreiche. Und bis es soweit ist, denke ich non-stop: Der Retro-Kram ist eben doch nur was für spießige Gruftis.

Text: max-scharnigg - Illustration: Katharina Bitzl

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