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Was mir das Herz bricht: Alte Männer, die ihren Koffer tragen

Illustration: Daniela Rudolf

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Vor ein paar Wochen strandete ich nachts um halb drei am Hauptbahnhof in Hannover. Es war wieder mal Unwetter, die Bahn-Strecke zwischen Köln und Berlin war gesperrt, die Wartehalle vor dem Info-Schalter hell erleuchtet und voll von übermüdeten Müttern mit brüllenden Kindern, powernappenden Geschäftsreisenden und rotgesichtigen Mallorca-Urlaubern, die ihren Billigflieger in Düsseldorf nun verpassen würden. Um uns alle herum patrouillierte ein winziger, weißhaariger Mann. Seine Kleidung – Blouson, Hose, Schnürschuhe mit Flechtmuster – war komplett in dem undurchdringlichen Beige gehalten, das man nur an Rentnern sieht. Sein Koffer, in derselben Farbe, hätte ihm hochkant hingestellt vermutlich bis zum Kinn gereicht.

Der Mann zog seine Runden, vor Müdigkeit wurden seine Schritte immer kleiner und schlurfender. Doch er hielt den Rücken gerade und den Koffer fest in der Hand. Und obwohl sein Arm mit jeder Umrundung der Halle länger und länger wurde, zog er den Koffer nicht. Er trug ihn. Es war nämlich kein Rollkoffer, sondern einer mit Tragegriff. Aus Leder. Groß, unhandlich und vermutlich sauschwer.

Sie haben es irgendwie geschafft, sich allem Komfort zu entziehen, der Reisen heute auszeichnet

Immer wieder begegnen mir aus der Zeit gefallene Reisende wie er, immer sind es Männer, immer sind sie alt. Man findet sie unter der Anzeigetafel am Bahnhof, wo sie ängstlich nach oben blicken und sich mit einer Hand an den Kopf greifen, während sie in der anderen ihren Koffer fest umklammert halten. Im Zug bugsieren sie das Ding erst umständlich durch den engen Gang und dann ins Gepäckfach. Beim Aussteigen sind sie die ersten an der Tür und packen mit beiden Händen ihren Koffer, als würde am Bahnsteig eine ganze Bande von Dieben warten, die nur darauf wartet, einen alten Lederkoffer in die Hände zu kriegen, den man heutzutage aus guten Gründen nirgendwo mehr kaufen kann.

Die Angst und die Unsicherheit, die diese Männer ausstrahlen, bricht mir jedes Mal das Herz. Es wirkt, als klammerten sie sich nicht nur an ihrem Koffer fest, sondern an einem früheren Leben. An einer Zeit, in der man seine Zugfahrkarten „am Schalter“ kaufte und bei Reisen ins Ausland immer Reiseschecks dabei haben musste. Sie haben es irgendwie geschafft, sich allem Komfort zu entziehen, der Reisen heute auszeichnet: Tickets per App buchen, Koffer mit einer Hand durch den Gang rollen und in der anderen noch einen Tall Latte von Starbucks balancieren.

Vielleicht haben sie keine Kinder, die ihnen das mit dem Internet erklären können

Vielleicht aber, und dieser Gedanke macht mich traurig, haben sie sich nicht entzogen, sondern sind irgendwie auf halber Strecke verloren gegangen. Vielleicht haben sie keine Kinder, die ihnen das mit dem Internet erklären können, in dem man den Sitzplatz seiner Wahl reservieren oder für 30 Euro einen Koffer mit vier Rollen bestellen kann. Vielleicht würden sie aber auch gar keinen anderen wollen, weil das schließlich der gute Koffer ist, den sie 1984 mit Ilse bei Lederwaren-Schmidt in Bad Pyrmont gekauft haben.

Ilse ist bei solchen Reisen jedenfalls nie dabei, diese Männer sind immer alleine, und ich frage mich, zu wem sie wohl fahren. Doch zu den Kindern? Zu den Geschwistern, die auch längst verwitwet sind? Oder gar zum Kurschatten, den sie im letzten Jahr an der Ostsee kennengelernt haben? Die Koffer sind oft cognacfarben, mit Schnallen aus Metall, die mit einem lauten „Schnapp“ zuklappen. Das Leder wölbt sich immer ein wenig nach innen, es verrät, dass in dem Koffer nur wenige Dinge sind: Unterhemden, Socken, zwei frische Hemden, ein Rasierbeutel, ein guter Tropfen als Mitbringsel. Und ich weiß, dass in der Innentasche ihres beigen Blousons ein Kamm steckt, mit dem sie sich zwischendrin verstohlen die Haare nach hinten streichen.

Der Koffer enthält alles für ein Wochenende, auf dessen Programm hauptsächlich Torte essen und höchstens noch ein Spaziergang stehen. Das anachronistische und sehr deutsche Gegenstück dessen, was man in Frankreich heute noch baise-en-ville nennt: Das Übernachtungsköfferchen für den Trip in die Stadt zur Geliebten, in den nicht viel mehr als eine Zahnbürste und frische Unterwäsche passt.

Sie kommen nie raus aus ihrer Einsamkeit, sonst hätten sie sich längst einen Trolley und eine BahnCard gekauft

Mich rührt diese Genügsamkeit, die solche Reisenden umgibt. Nur selten haben sie ein Buch dabei oder eine Zeitschrift, Smartphone oder Tablet schon gar nicht. Sie lehnen sich allerhöchstens ein bisschen zurück, legen dann die Hände in den Schoß und blicken auf die vorbeifliegende Landschaft, drei, vier Stunden lang. Über den McDonalds-Esser und Netflix-Gucker gegenüber rümpfen sie still die Nase, und gleichzeitig spürt man, dass Zugfahren das Schönste und Aufregendste ist, das ihnen seit langem passiert. Sie sind weder Aktivurlauber noch Kreuzfahrer wie andere in ihrem Alter, sie kommen nie raus aus ihrer Einsamkeit, sonst hätten sie sich längst einen Trolley und eine BahnCard gekauft.

Aber jetzt, jetzt wird’s noch mal schön. Und deshalb darf nichts schiefgehen. Der alte Mann in Hannover schien lieber böse Rückenschmerzen in Kauf zu nehmen als zu riskieren, beim Hinsetzen einzuschlafen und seinen Koffer aus den Augen zu lassen oder den Anschluss zu verpassen.

Uns anderen, den Easy-Jetsettern, stehen die alten Männer mit ihren Koffern meist nur im Weg. Wenn mir das nächste Mal einer begegnet, werde ich ihn trotzdem fragen, wohin er fährt. Und ihm dann beim Tragen helfen.

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