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"Das wichtigste Ereignis unserer Generation"

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Camille (Name geändert), 31, hat iranische Eltern und wurde in den USA geboren. Als die Eltern dort ihr Studium beendet hatten, zogen sie wieder in den Iran. Camille machte ihren Bachelor und ging für den Master in Industrial Engineering in die USA. Kurz vor den Wahlen besuchte sie ihre Heimat wieder – und erlebte, was die Proteste mit ihrer Generation anstellten. Ein Gespräch darüber, wie sich das Leben von Tausenden von iranischen Jugendlichen geändert hat. jetzt.de: Camille, du bist gerade wieder aus Teheran in die USA zurückgekommen. Wie geht es dir? Camille: Ich bin froh, endlich einmal wieder frei sprechen zu können. In Teheran hieß es, man würde abgehört - speziell Leute mit doppelter Staatsbürgerschaft. Wie hast du vom vermeintlichen Wahlbetrug erfahren? Wirklich erfahren haben wir ja nie etwas. In der Wahlnacht von Freitag auf Samstag verkündete Mussawi über Twitter seinen Sieg. Dann hieß es, wir sollten unbedingt im Haus bleiben, weil auch Achmadinedschad seinen Wahlsieg verkündete. Am frühen Nachmittag ging Mussawi zum Büro der bekannten Zeitung Ettela'at, um ihnen Informationen bezüglich der Wahl mitzuteilen. Er wurde nicht hineingelassen, genauso wie die anderen ausländischen Nachrichtensender, die davor standen. Meine Wohnung ist gleich neben der Zeitung und ich stand auf meinem Balkon, als Mussawi in das Haus der Zeitung wollte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Waren die Wahlen aus deiner Sicht gefälscht? Woher kam die Annahme zuerst? Ich wohnte neben einem der Wahllokale, das noch offen war, als die Wahlergebnisse schon verkündet wurden. Interessant war, dass sich seit der Verkündung des ersten Zwischenergebnisses um 11 Uhr am Freitag bis zum Ende der Auszählung nichts mehr geändert hatte. Am Morgen wurde verkündet, dass Mussawi 600.000 Stimmen hätte. Eine Stunde später waren es nur noch 500.000 Stimmen. Achmadinedschad wollte angeblich einen Wahlrekord aufstellen. Vor zwölf Jahren gewann Mohammed Khatami mit 22 Millionen Stimmen. Das war Rekord und es geht das Gerücht rum, dass Achmadinedschad ihn einfach schlagen wollte. Wir haben aber keine offiziellen Zahlen, da es zum Beispiel keine internationale Kontrolle gab. Wir können nur von den Menschenmassen, die bei den Protesten waren ausgehen und bei aller Liebe: Egal wie beliebt Achmadinedschad sein mag, er kann keine 24 Millionen Stimmen gewinnen. Karoubi, der andere reformistische Kandidat hat nach den Wahlergebnissen nur 300.000 Stimmen bekommen. Das scheint mir doch mehr als unmöglich zu sein. Das wären weniger Leute als landesweit für seine Kampagne gearbeitet haben. Du warst bei den Protesten dabei. Wie war das, als es los ging? Einen Tag nach der Wahl gingen wir zum Kampagnenhauptquartier von Mussawi, um zu sehen, wie es weitergeht. Aber wir wurden von der Polizei unterwegs angehalten. Dann kamen Gruppen der schwer gepanzerten Polizei auf Motorrädern und fingen an, die Menge anzugreifen. Einige fingen an, Steine zu werfen und Müllcontainer in Brand zu stecken. Die Angriffe der Polizisten wurden heftiger und wir liefen davon. Viele Ladenbesitzer deckten uns. Sie boten uns Wasser an oder ließen uns in die Läden, um uns zu verstecken, als die Polizei uns verfolgte. Nachdem es ein bisschen ruhiger wurde, gingen wir auf die Straße zurück. Daraufhin startete eine zweite Angriffswelle mit Tränengas. Das Ganze ging weiter bis ungefähr 21 Uhr – und an den nächsten Tagen. Was bedeuten dir diese Proteste? Meine ganzen Verwandten sagen, dass es noch nie so etwas gegeben hat, sogar während der Revolution 1978 nicht, als der Schah abgesetzt wurde und die Monarchie zu Ende ging. Die Demonstrationen in den letzten Wochen waren einzigartig. Das Faszinierende war, dass jeder wusste, wann wo welche Demonstration war - ohne dass sie öffentlich bekannt gegeben wurde. Alles ging über das Internet und Mundpropaganda. Es war fast mehr ein gesellschaftliches als ein politisches Ereignis. Hast du denn jeder Twitter-Nachricht geglaubt, die du gelesen hast? Nein. Aber wenn man die Schreiber kennt, gibt es eine gute Chance, saubere Nachrichten zu bekommen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Es ist jetzt fast sechs Wochen her, dass ihr demonstriert habt. War alles umsonst? Ich denke nicht. Ich glaube, für die nächsten zwei Jahre bleibt Achmadinedschad an der Macht. Dann sind Parlamentswahlen und der Unwillen wird wieder deutlich werden. Außerdem protestieren viele im Untergrund. Ich befürchte, diese Proteste werden radikaler sein. Du bist 31. Haben die Proteste schon jetzt deiner Generation einen Stempel aufgedrückt? Für meine Generation ist das das wichtigste sozialpolitische Ereignis gewesen. Wir haben erfahren, wie man sich für eine Sache vereinigt, wie man sich gegen etwas wehrt, wie man gegen die Unterdrückung angeht. Manchmal denke ich, dass es ganz gut ist, dass Mussawi die Wahl nicht gewonnen hat – sonst wäre nie passiert, was passiert ist. Warum seid ihr gerade bei dieser Wahl auf die Straße gegangen? Bei den letzten Wahlen war man misstrauisch, aber es hat sich nicht wirklich jemand darum gekümmert. Dieses Mal wollte jeder etwas ändern und deswegen ging auch fast jeder zu Wahl. Als dann Achmadinedschad den Sieg für sich reklamierte, wurden die Menschen wütend. Sie waren nicht mehr enttäuscht, sondern wütend. Dass dann die Demonstrationen so gut liefen, lag nicht zuletzt daran, dass Twitter und Facebook eine sehr gute Dinge zum Kommunizieren sind. Haben die Proteste etwas in Bezug auf deine Identität geändert? Früher wurde ich komisch angeschaut, wenn Leute erfahren haben, dass ich aus dem Iran bin. Damals hatte man noch die Vorstellung, dass alle Iraner so wie ihre Regierung sind. Mittlerweile bin ich stolz, Iranerin und Teil dieser Bewegung zu sein, die soviel verändert hat und noch soviel verändern wird.

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