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Den Glauben an die Demokratie verloren: Wie deutsche Türken die Krise in ihrer Heimat sehen

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In Istanbul demonstrierten Millionen gegen die Kandidatur Güls (Foto: dpa) In der letzten Woche waren die Zeitungen voll von Berichten über die Krise um die Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Diskutierst du mit deinen deutschtürkischen Freunden viel über politische Themen aus der Türkei? Bei so einem außergewöhnlichen Ereignis schon. Dass das Militär sich so ins politische Geschehen einmischt ist zwar nichts Neues in der Türkei, kommt aber selbst da nicht tagtäglich vor. Da redet man natürlich schon drüber. Aber ich würde nicht sagen, dass die türkische Politik ein Alltagsthema ist unter den deutschen Türken. Dann schon eher Sport. Oder sogar das politische Geschehen in Deutschland. Wir leben nun mal hier und nicht in der Türkei. Da betrifft mich die deutsche Gesundheitspolitik eben direkter als innere Angelegenheiten in der Türkei. Aber so eine Krise wie jetzt ist natürlich Thema Nummer eins. In der Türkei ist die AKP die stärkste Partei. Aber es gingen auch viele Menschen auf die Straße, die befürchten, dass die AKP die Türkei islamisiert. Gehen die Meinungen bei euch auch derart auseinander? Es gibt schon unterschiedliche politische Einstellungen. Aber bei der aktuellen Situation herrscht Einigkeit. Ich habe bisher noch keinen getroffen, der es billigt, wie die Präsidentschaftskandidatur Güls boykottiert und durch Druck von Seiten des Militärs verhindert wurde. Wenn ich das vorherrschende Gefühl mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen: Enttäuschung. Egal, ob sie Gül und seiner islamisch-konservativen AKP oder der Oppositionspartei CHP mehr geneigt sind oder – was bei jungen Deutschtürken sicher die Mehrheit ist – mit Politik gar nichts am Hut haben: Sie sind einfach enttäuscht, dass überhaupt nichts voran geht in der Türkei. Es gab im Lauf der türkischen Geschichte ja mehrere Putsche, und reguläre Wahlen haben seit Jahrzehnten nicht mehr stattgefunden. Als ich in Istanbul studiert habe, gab es jeden Tag Demonstrationen für und gegen das Kopftuch, Schlägereien und Polizeieinsätze. In den letzten fünf Jahren war das nicht mehr der Fall. Es ging wirtschaftlich und politisch voran und man hatte eigentlich das Gefühl, dass eine gewisse Normalität eingekehrt ist. Und jetzt bricht der Streit wieder von neuem los, und wieder greift das Militär maßgeblich in die Politik ein. Das hört sich ein wenig nach Resignation an. Die Hoffnung stirbt natürlich zuletzt. Aber bis zu einem gewissen Punkt habe ich den Glauben an die Demokratie in der Türkei schon verloren. Die Armee ist einfach immer noch die größte Macht im Staat. Man hat ja gesehen, dass eine E-Mail reicht, um das politische Geschehen maßgeblich zu beeinflussen. Natürlich wird das nicht zugegeben, aber wer glaubt, das Militär hätte keinen Einfluss auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts gehabt, ist ziemlich naiv. Wie informierst du dich eigentlich über die Politik in der Türkei? Durch deutsche oder türkische Medien? Beides. Ich schaue in die deutsche Presse, nutze aber auch türkische Medien recht häufig. Gibt es da große Unterschiede in der Berichterstattung? Ja, ziemlich. Erstmal werden die Themen in der deutschen Medienlandschaft natürlich weniger ausführlich behandelt. Dafür aber wesentlich neutraler. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zum Beispiel ist eine türkische Zeitung in Jubelstürme ausgebrochen, wie man sie hierzulande noch nicht mal von der Sportberichterstattung kennt. Insofern hat man als Türke in Deutschland wahrscheinlich einen anderen Blickwinkel als in der Türkei. Einen, der neutraler ist und weniger ideologiegeladen. Man lässt sich nicht so leicht polarisieren und behält vielleicht mehr den Überblick fürs Ganze. Abdullah Gül weckte mit seiner Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten Ängste, die Türkei würde langsam islamisiert werden. Sind diese Ängste eigentlich gerechtfertigt? Nein, in keiner Weise. Diese Angst hat viel mit der Entstehungsgeschichte der AKP zu tun. Die ganze derzeitige Elite der AKP entstammt der ehemaligen Wohlstandspartei, die sehr streng religiös war. Sie wurde vom türkischen Verfassungsgericht mehrmals verboten, unter anderem Namen neu gegründet und wieder verboten. Mili Görüs, sozusagen die deutsche Version der Wohlstandspartei, wird ja auch vom deutschen Verfassungsschutz als bedenklich eingestuft und beobachtet. Der jetzige Premierminister Erdogan war, als er das Amt des Bürgermeisters von Istanbul innehatte, ebenfalls Mitglied der Wohlstandspartei. Ein eher liberaler, weniger religiöser Flügel um Gül und Erdogan gründete nach einem innerparteilichen Streit um den Parteivorsitz mit dem streng religiösen Flügel die AKP. Trotzdem ist aber dieses streng religiöse Image der Wohlstandspartei an der AKP haften geblieben. Obwohl die Partei so streng religiös eigentlich gar nicht ist… Genau. Sie entstammen zwar der religiösen Wohlstandspartei, pflegen aber verglichen mit ihr eine liberale, weltoffene und auch Europa nicht abgeneigte Weltanschauung.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Abdullah Gül, Außenminister und Kandidat der AKP für das Amt des Staatspräsidenten (Foto: Reuters) Warum dann die große Aufregung, als bekannt wurde, dass Gül für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren will? Soviel Macht ist diesem Amt doch ohnehin nicht zugewiesen, oder? Nein, das Amt ist durchaus vergleichbar mit dem deutschen Bundespräsidenten. Allerdings hat er in ein paar Bereichen auch direkten Einfluss. Zum Beispiel? Die Wahl der Universitätsdirektoren. Innerhalb der Uni werden fünf Kandidaten durch Wahl bestimmt, der Präsident kann dann einen davon frei auswählen. Und da sehen eben einige den Laizismus in Gefahr. Wie stehen deutsche Türken zu dieser Trennung von Staat und Religion? Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. Wir würden uns wünschen, dass der politische Diskurs weniger mit dem Thema Laizismus – Nicht-Laizismus aufgeladen ist, sondern man sich mit eigentlichen politischen Problemen befasst. Und dass sich ein ganz normaler geregelter demokratischer Ablauf etabliert, der für Stabilität sorgt. Weitere Artikel zur Situation in der Türkei findest du hier und hier.

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