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Der Ameisen-Arbeiter

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Es ist spät in der Nacht in Yokohama. Nial Murtagh geht trotzdem sofort ans Telefon. „Ken’ichi“, sagt er in fließendem Japanisch, „Hallo?“ Niall Murtagh klingt nicht wie ein Ire, ist nicht laut und betrunken, hat nicht immer einen Witz auf den Lippen, oder ein melancholisches Folk-Lied. Eigentlich klingt der Computeringenieur eher wie ein Japaner, zurückhaltend und leise. Es gibt eben Klischees über jedes Land, kaum einer weiß das besser als Niall Murtagh, der in seinem Buch „Blauäugig in Tokio – Meine verrückten Jahre bei Mitsubishi“ über den Kontakt mit einer fremden Kultur berichtet. Murtagh kam 1991 als einer der ersten West-Europäer in die Chefetage der japanischen Konzerne. 2005 kündigte er und schrieb einen Arbeitsbericht aus einer fremden Welt. Mit jetzt.de spricht Murtagh über das Mitsubishi-Handbuch, die Vorzüge der Demut, und warum es in japanischen Firmen verboten ist, die Hände in die Taschen zu stecken. Guten Abend Mr. Murtagh. Sagen Sie, könnten Sie mir nicht eine Strophe aus der Mitsubishi-Hymne vorsingen? Sie wissen schon: „Neue Produkte für die Welt / oh-oh, Techno-Leben / Mitsubishi wu-wu-wu“. Nein, das tut mir leid. Ich habe damals auch gelacht, als ich im Handbuch für neue Mitarbeiter die Hymnentexte entdeckt habe. Ich habe meine Kollegen über den Schreibtisch hinweg angeschaut und mich gefragt, ob die den Text wohl alle auswendig gelernt haben. Aber die Hymnen werden gar nicht oft gespielt, nur zu Zeremonien oder Preisverleihungen. Die meisten Mitarbeiter kennen die Lieder gar nicht. Aber ich habe gehört, dass manche kleine Firma in Japan ihre Rekruten jeden Morgen zum gemeinsamen Singen antreten lässt, um die Identifikation mit dem Arbeitgeber zu erhöhen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die "Salarymen" nach Dienstschluss: immer noch uniformiert Menschen in Reih und Glied, die auf Kommando singen und tanzen - das klingt eher nach Nord-Korea als nach Japan. Hey, manche von den Hymnen sind richtig gute Pop-Songs. Aber im Ernst: Ich habe meist im Labor gearbeitet und besaß deshalb mehr Freiheiten. Aber ich habe aus dem Fenster oft gesehen, wie die Buchhalter und Fabrikarbeiter auf dem Innenhof zu Gymnastikübungen antreten mussten - wie ein paar Marionettenpuppen sahen sie aus. Die ersten Tage in Japan fühlen sich an wie ein abgedrehter Science-Fiction-Film. „Stecken sie die Hände nicht in die Taschen“, heißt es in dem Firmenbuch. „Das macht eine schlechte Haltung.“ Aber ich will mit meinem Buch nicht nur alte Vorurteile bestätigen, also Japan als altmodische, hierarchische und quasi-militärische Gesellschaft beschreiben. Es gibt genug Reiseberichte, welche die Macken und Dummheiten dieser Kultur betonen, die verrückten TV-Shows, oder die Automaten für Damenunterwäsche, die ich übrigens noch nie gesehen habe. Ich wollte auch die japanische Perspektive beschreiben. Manches macht ja auch Sinn hier. Stimmt. Die Gymnastikübungen haben zum Beispiel den Vorteil, dass die Leute wenigstens ein bisschen Sport am Tag machen. Die japanischen „Salaryman“, also die Manager-Kaste, heißen auch „Ants“, kleine Tiere und fleißige Arbeiter ohne Sinn für das Ich. Und ein paar Regeln klingen wirklich brutal: „Urlaub ist kein Recht, sondern ein Privileg.“ Oder: „Die Familie sollte nicht wichtiger sein als der Job.“ Aber mit gefällt die ruhige, höfliche Kommunikationskultur. In Amerika heißt es immer: „Push forward. Go ahead.“ Aber wenn alle rennen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass jemand ein paar blaue Flecken abbekommt. Die japanische Art miteinander umzugehen, vermindert Reibung und Konflikte. Sie sind in den 80er Jahren nach Japan gegangen. Davor hatten Sie eine Weltreise und eine Atlantik-Umsegelung gemacht. Was zieht einen Globetrotter in eine der traditionellsten Kulturen der Welt. Die meisten Menschen reisen nach dem Studium ein bisschen herum, dann fahren sie in ihre Heimatstadt und starten eine Karriere. Wie langweilig. Ich lag an einem Strand in der Karibik, als ich das Schreiben eines japanischen Unternehmens bekam. Ich wollte nicht nach Hause fahren, und hier bot sich mir die Gelegenheit, in einer neuen und aufregenden Welt zu arbeiten. Aber ich bin selbst überrascht, dass ich so lange geblieben bin. Die meisten meiner ausländischen Kollegen flüchten nach zwei Jahren wieder in den Westen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Pionierameise Niall Murtagh Sie hingegen haben geheiratet, zwei Kinder bekommen und leben jetzt in einem Vorort von Yokohama. Man könnte sagen, sie haben sich gut integriert. Mein Geheimnis ist wahrscheinlich, dass ich ein hohes Toleranzlevel für dumme Regeln habe. Wenn man immer nach dem Sinn fragen würde, dann macht man sich ja verrückt. Man wird hier in Japan eben sehr an Hand von Umgangsformen und Kleidung beurteilt. Im Westen ist es egal, wenn jemand wie ein Penner aussieht, so lange er seinen Job gut macht. In Japan hingegen kannst du ein Genie sein, aber wenn du auffällst, heißt es gleich: „Du bist ein schlechter Mensch.“ Es gibt natürlich auch hier Individualisten, aber sie haben es schwieriger, als junge Menschen in Deutschland oder England. Ausländern wird auch mehr verziehen. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie vom Betriebsarzt zum Augenspezialisten geschickt wurden, weil ihre blaue Iris nicht in sein Analyseschema passte. Sie waren offenbar wirklich ein Pionier. Werden in den letzten Jahren denn mehr Leute aus anderen Ländern eingestellt? Bei Hitachi, Toyota oder Mitsubishi arbeiten immer auch ein paar junge Westler oder Chinesen, aber die machen meist nur ein bis zwei Prozent des Teams aus. Die Manager denken sich, dass die externen Einflüsse gut sind, um den japanischen Angestellten etwas über andere Techniken und Sprachen beizubringen. Aber der Einfluss der Ausländer auf den Arbeitsstil ist gering. Werden sich im Prozess der Globalisierung nicht langfristig die verschiedenen Unternehmenskulturen vermischen? Natürlich träumt jeder von einer Mischung aus amerikanischer Kreativität, japanischer Disziplin und deutscher Tatkraft. Aber ich denke nicht, dass es in nächster Zeit so etwas wie die globale Arbeitskultur geben wird. Es gibt nur den einzelnen Standort, der in einer lokalen Kultur verwurzelt ist. In den 80er Jahren fand ein erster Boom der asiatischen Wirtschaft statt. Heute boomen Länder wie China oder Süd-Korea. Würden sie jungen Leuten raten: „Go East!“ Über China wird gerade viel geredet, aber man vergisst, dass Löhne und Lebensstandard weit von unseren Verhältnissen entfernt sind. Ein Job dort kommt also nur bei einem asiatisch-westlichen Joint Venture in Frage. Es ist aber sicher eine interessante Zukunftsperspektive. Und die Erfahrung eines zwei- bis dreijährigen Arbeitsaufenthalts ist ein großer Vorteil. Aber wer nur Karriere machen will, also möglichst schnell, möglichst hoch aufsteigen, der sollte irgendwann wieder nach Hause gehen. Es gibt eben kein Land der Welt, in dem Ausländer besonders oft in die Vorstandsetagen vordringen. Fotos: Ipon, Berlin Verlag

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