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Die Lüge von der Treue

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In einem Manifest auf Zeit Online verurteilt die Schweizer Journalistin Michèle Binswanger die geläufige Ein-Partner-Beziehung. Treue ist für sie keine Bedingung für Liebe, sondern eine veraltete, unrealistische Vorstellung, die Partnerschaften zerstört.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Herr Reinhardt, die Autorin Michèle Binswanger sieht das euroamerikanische Partnerschaftsmodell sehr pessimistisch. Es sei zum Scheitern verurteilt, weil der Mensch von Natur aus untreu ist. Wie sehen Sie das als Ethnologe?
Thomas Reinhardt: Mit der menschlichen Natur wäre ich sehr vorsichtig. Zum einen bin ich nicht überzeugt, dass so etwas wie „die menschliche Natur“ überhaupt existiert, und zum anderen: Wenn sie existiert, dann sind wir in der Lage, den ein oder anderen Trieb zugunsten anderer Werte zurückzustellen.

Geht Frau Binswanger zu weit, wenn sie das westliche Beziehungsideal als "Lüge" hinstellt?
Ich halte es mit Beziehungsidealen wie mit allen anderen Verhaltensidealen. Sie müssen nicht erreicht werden, um als Ideal zu gelten. Praktisches Beispiel: Es ist ein Ideal, nicht bei Rot über die Ampel zu gehen oder das Tempolimit nicht zu überschreiten. Aber bloß, weil in der Realität dieses Ideal nicht immer erreicht wird, würde ich nicht so weit gehen, die Straßenverkehrsordnung als Lüge zu bezeichnen.

Der Text erweckt oft den Eindruck, dass es nur monogame Gesellschaften gibt und dieses System komplett veraltet ist.
Das ist natürlich Unfug. Es gibt eine ganze Reihe an polygamen Gesellschaften, die meisten davon sind polygyn, sprich ein Mann hat mehrere Frauen. Das ist in vielen afrikanischen Gesellschaften der Fall. Seltener kommen im südasiatischen Bereich polyandrische Gesellschaften vor, wo Frauen mehrere Männer haben. Diese Beziehungsformen sind ebenso stabil oder instabil wie die monogame. Monogamie ist zwar sehr verbreitet, aber solange alle Beteiligten zufrieden sind und es funktioniert, ist jedes Modell legitim. Da ist die Ethnologie aus der Phase raus, zu sagen: Das ist besser, und das nicht.

Frau Binswanger ist offenbar nicht ganz glücklich damit. Auf "alle" trifft die Zufriedenheit also nicht zu.
Da wären wir wieder bei der Frage mit den Idealen. Monogamie, vor allem langfristig zu realisieren, ist natürlich nicht immer einfach. Da lauern ja Versuchungen am Wegesrand und ich würde einfach vermuten, dass viele diesen Versuchungen nachgeben. Das stellt aber nicht zwingend das Modell an sich in Frage. Unabhängig davon gibt es mehrere Studien, die zeigen, dass Menschen in längeren, festen Partnerschaften zufriedener sind als Menschen ohne.

War das früher anders?
Im Artikel wird ja ein Evolutionsmodell vorgetragen, das praktisch eins zu eins von Lewis Henry Morgan übernommen wurde: Also von "jeder mit jedem und jeder" bis zur heutigen Ein-Partner-Beziehung. Der auch von Friedrich Engels oft rezitierte US-Amerikanische Anthropologe wollte Ende des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung der Verwandtschaftsformen erarbeiten. Die Schlussfolgerungen waren aber Spekulationen. Es wundert mich sehr, dass sie in dem Artikel aufgegriffen wurden. Fakt ist: Wir wissen nicht, wie die Menschen ihre Verwandtschaft vor zwanzigtausend Jahren geregelt haben und wie sie Beziehungen zu dieser Zeit gelebt haben. Das lässt sich archäologisch nicht belegen, wir haben keine schriftlichen Dokumente aus der Zeit, und orale Überlieferungen, die bis heute Bestand hätten, sind mir auch nicht bekannt.

Eine große Rolle in dem Artikel spielt die Vorstellung von Liebe, die viele mit sexueller Treue gleichsetzen. So wird ein Sexualtherapeut zitiert, der den Ursprung dieser -nach der Autorin verklärten und unrealistischen Vorstellung- auf die Romantik zurückführt. Zuvor soll Untreue völlig normal gewesen sein. Kann man die These so stehen lassen?
Ich habe ein Problem damit, dass immer wieder das unidirektionale System von einer promisken Urhorde hin zur spießigen monogamen Gesellschaft, und dann wieder zu dessen Aufbruch angeführt wird, das auch noch für die gesamte Menschheit gelten soll. Das ist schlichtweg falsch. Bei der These mit dem modernen Liebesmodell muss man noch mal differenzieren: Bei dem zitierten Clemens geht es um das Fundament der westlichen Ehe, die auf einer intensiven, emotionalen Verbindung beruht – im Gegensatz zu Ehen, die als Reproduktionseinheit geschlossen werden. Hier ist es relativ gleichgültig, was die Partner ansonsten tun. Das romantische Bürgertum hat sicher noch viel zum Wert der Verbindung beigetragen, aber „Liebe“ hat ja auch mit Hormonen zu tun, die auch vor der Romantik existierten. Interessant ist das Zusammenspiel von Gefühlen, Sexualität und Reproduktion. Vermutlich wurden die Komponenten in keiner Gesellschaft zuvor so stark getrennt, wie bei uns. Das hat nicht zuletzt mit der Einführung effektiver Verhütungsmittel zu tun.

Verhütungsmittel machen Sex unverbindlicher. Wie kommt es, dass Fremdgehen dennoch pathologisiert und moralisch stigmatisiert wird?
Ich denke, dass dies nichts mit dem Akt des Fremdgehens an sich zu tun hat, sondern mit den vielen Begleiterscheinungen. Heimlichkeiten, Vertrauensbruch und eine Form von Betrug, der in unserer Gesellschaft nicht gerne gesehen wird. Auch in anderen Gesellschaften, die von Ethnologen klassischerweise untersucht werden, kann man beobachten, dass das Aufbrechen der Exklusivität einer Reproduktionsbeziehung auf vielfältigste Reaktionen stößt. Das geht von lebensgefährlichen Angelegenheiten bis zu einem Schulterzucken. Systematisch wurde das meines Wissens in der Ethnologie noch nicht untersucht. Das ist aber auch ein sehr sensibles Thema. 

Ist Eifersucht eine kulturelle Universalie? Und wenn ja, wozu dient sie?
Der Ethnologe Christoph Antweiler hat bei seiner Suche nach menschlichen Universalien als eine von wenigen Gemeinsamkeiten sexuelle Eifersucht genannt. Der Umgang mit dieser Emotion wird aber natürlich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich geregelt, je nach dem, ob das Gefühl positiv oder negativ besetzt ist. Denken Sie nur an den Slogan der Studentenbewegung der 70er Jahre: "Wer zweimal mitderselben pennt, gehört schon zum Establishment". Eifersucht war in denentsprechenden Kreisen als Emotion zweifellos vorhanden, aber eben von der spezifischen Gruppennorm nicht zugelassen. Auf die Frage, wozu Eifersucht dient, muss ich leider passen. Es gibt evolutionsbiologische Erklärungsmodelle, die darin eine Art Kompromiss zwischen dem vordergründig männlichen Wunsch nach größtmöglicher Verbreitung der eigenen Gene, und der oft als weiblich beschriebenen Suche nach größtmöglichen Sicherheit bei der Aufzucht der Nachkommen sehen. Als Ethnologe aber kann ich hier höchstens antworten: Das kommt ganz auf die Gesellschaft an, die Sie betrachten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Prof. Dr. Thomas Reinhardt ist außerplanmäßiger Professor an der LMU München und lehrt dort unter anderem Verwandtschaftsethnologie, die sich mit weltweiten Familiensystemen auseinandersetzt.

Text: vanessa-vu - Bild 1: table/photocase.com, Bild2: oh

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