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"Die meisten Freunde haben den Krieg nicht überlebt"

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Am Montag erscheint der Roman „Weit Gegangen“ von Dave Eggers (Kiepenheuer & Witsch). Der kalifornische Schriftsteller avancierte 2000 mit seinem autobiographischen Debüt „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ mit einem Schlag zum Star der jungen amerikanischen Literatur. In seinem neuen Buch erzählt Eggers die berührende, schockierende, oft aber auch komische Lebensgeschichte des sudanesischen Bürgerkriegsflüchtlings Valentino Achak Deng. Valentino war sechs Jahre alt, als muslimische Milizen 1987 seine Heimatstadt Marial Bai überfielen und für ihn eine jahrelange Odyssee begann. Zunächst allein, später in einer Gruppe mit Hunderten anderer Jungen, die ebenfalls von ihren Familien getrennt auf der Flucht waren, lief er bis nach Äthiopien und später in das Flüchtlingslager Kakuma in Kenia. Über 20.000 vertriebene Jungen, die so genannten „Lost Boys“, waren damals auf der Flucht vor der Armee und den arabischen Reitermilizen, die heute auch für den Genozid in Darfur im Westen Sudan verantwortlich sind. 2001 nahmen die Vereinigten Staaten Valentino als Flüchtling auf. Gemeinsam mit Dave Eggers hat er eine Stiftung gegründet, die in seiner Heimatstadt Marial Bai eine Schule eröffnen will. Ein Interview jetzt.de: Hallo Valentino, wo erreiche ich dich gerade? Valentino: Ich bin in Nairobi, der Hauptstadt Kenias, um mich mit meiner Frau und einigen Verwandten zu treffen. Ich bin gerade erst aus Marial Bai angekommen. Wie geht dein Schulprojekt voran? Die starken Regenfälle in der letzten Zeit haben uns aufgehalten, aber jetzt läuft es wieder. Wir haben mittlerweile fünf von insgesamt zehn Klassenräumen fertig gestellt. Ich hoffe, dass wir die Schule im Februar nächsten Jahres eröffnen können. Habt ihr schon Lehrer für eure Schule gefunden? Es gibt bereits einige Lehrer, die mit uns zusammenarbeiten wollen. Aber was viel wichtiger ist: Die Bevölkerung steht hinter uns und unterstützt uns. In den letzten drei Wochen haben wir die Schüler aus der Gegend eingeladen, sich unser Projekt anzusehen. Wir wollten ihnen zeigen, was diese Schule einmal werden wird. Stell dir vor: Über 3000 Schüler sind gekommen. So viele Kinder werdet ihr wahrscheinlich gar nicht aufnehmen können. Nein, wir fangen klein an. Am Anfang nehmen wir 300 Schüler auf, dann werden wir wachsen. Lass uns über deine Zeit als „Lost Boy“ sprechen. Auf der Flucht durch den Sudan war eure Gruppe enormen Gefahren ausgesetzt: wilde Tiere, Angriffe durch die Armee oder muslimische Reiterbanden, Hunger, lebensbedrohende Krankheiten. Wovor hattest du am meisten Angst? Am schlimmsten war es, einen Freund sterben zu sehen und ihm nicht helfen zu können. Wir wurden häufig von Kampffliegern angegriffen und mussten uns verstecken. Ich hatte immer große Angst davor, im Versteck neben einem Jungen liegen zu müssen, der im Sterben lag. Jemand, den du gut kennst und der dir nahe steht. Manchmal war es so, dass diese Jungen mich noch darum baten, ihnen zu helfen, Wasser oder Lebensmittel zu besorgen, Hilfe zu suchen – aber du kannst rein gar nichts für sie tun, denn das wäre viel zu gefährlich. Diese Ohnmacht, ein Leben nicht schützen zu können: Das flößt mir noch heute Angst ein. Was gab dir selbst die Kraft, zu überleben? Die vielen Menschen, die ich auf meiner Flucht traf, die großzügig, gütig und mutig waren. Viele haben uns geholfen, mit Lebensmitteln versorgt oder eine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Obwohl ich von meiner Familie getrennt war, habe ich mich niemals allein oder verlassen gefühlt. Das gab mir Mut. Denkst du noch häufig an diese Zeit? Ich erinnere mich oft an die Gestorbenen und an all die Dinge, die passiert sind. An meine toten Freunde zu denken, geht mir nahe und berührt mich. Wie gehst du mit diesem Verlust um? Die meisten meiner Freunde haben den Krieg nicht überlebt, sie sind heute nicht mehr bei mir. Darum wünsche ich mir, dass sie, falls sie mich sehen könnten, stolz auf das wären, was ich heute mache. Dieser Gedanke treibt mich an. Und ich will nicht darüber klagen, dass mein Leben schwer war – denn schließlich habe ich noch ein Leben.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Valentino Wie entstand die Idee zu „Weit gegangen“? Ich wollte, dass die Menschen endlich etwas von diesen fürchterlichen Dingen erfahren, die in einem Teil der Welt passierten, von dem die meisten bislang noch nicht einmal gehört haben. Ich war ein Überlebender dieses grausamen Konflikts. Ich konnte den Menschen deshalb eins erzählen: Was ist Krieg? Was macht der Krieg mit uns? Darum wollte ich meine Geschichte mit all ihren Details aufschreiben. Wie bist du auf Dave Eggers gestoßen? In Atlanta hatte ich eine gute Freundin, Mary Williams, die eine Solidaritätsgruppe für Flüchtlinge aus dem Sudan gegründet hatte. Ich fragte sie, ob sie jemanden kennt, der mir bei meiner Biographie helfen könnte. Mary hatte gerade „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ gelesen und war total begeistert. Ihr gelang es, einen Kontakt zu Dave aufzubauen. Sie stellte mich ihm vor und schon bald begannen wir, an meiner Geschichte zu arbeiten. Hat Dave Eggers sofort zugesagt, das Buch mit dir zu schreiben? Am Anfang gab es vor allem gegenseitige Besuche: Ich fuhr nach San Francisco und lernte seine Geschwister und Freunde kennen. In Atlanta besuchten wir gemeinsam andere sudanesische Flüchtlinge. Damals wussten wir noch überhaupt nicht, was aus unserer Zusammenarbeit resultieren wird. Schließlich haben wir dann beinahe vier Jahre an dem Buch gearbeitet – und sind gute Freunde geworden. Habt ihr noch immer viel Kontakt? Ja. Gerade in der vergangenen Woche war Dave wieder in Marial Bai, um zu sehen, welche Fortschritte das Schulprojekt macht. Das waren tolle, hektische Tage. Du bist auch 2003 gemeinsam mit Dave Eggers nach Marial Bai gereist – es war das erste Mal, dass du nach deiner Flucht wieder in deine Heimat zurückgekehrt bist. Kannst du beschreiben, was du damals gefühlt hast? Ich habe den Ort nicht wiedererkannt. Das war nicht mehr mein Marial Bai, in dem ich geboren wurde und das in meiner Erinnerung immer weiter existiert hatte. So viele Menschen waren wegen des Kriegs geflohen. Die, die geblieben sind, sind älter geworden. Die ganze Gemeinschaft hatte sich verändert. Als ich in Marial Bai ankam, begriff ich die Macht des Krieges: Dass der Krieg tatsächlich beinahe alles zerstören kann. Trotzdem war ich glücklich, wieder da zu sein. Wie war es, deine Eltern nach so langer Zeit wieder zu treffen? Ich war wahnsinnig aufgeregt. Nach über 16 Jahren war ich endlich wieder mit meiner Familie zusammen! Trotzdem war es frustrierend, denn der Krieg war immer noch nicht zu Ende. Die Verhandlungen über ein Friedensabkommen waren noch nicht abgeschlossen, die Situation war noch immer katastrophal. Ich war hin und her gerissen, ob ich überglücklich oder traurig sein sollte. Wann bist du zum ersten Mal auf die Idee gekommen, dass du beim Wiederaufbau deiner Heimatstadt helfen könntest? Ich hatte diese Hoffnung schon, als ich in die Vereinigten Staaten gegangen bin. Als meine Geschichte dort 2006 erschien und wir merkten, dass sich unglaublich viele Menschen dafür interessierten, beschlossen Dave Eggers und ich, dass wir die Gewinne aus dem Buch nutzen wollen, um den Menschen im Sudan zu helfen. Wir gründeten eine Stiftung mit dem Ziel, in Marial Bai eine Schule zu bauen. Im Südsudan fehlt es heute vor allem am Nötigsten: Es gibt kaum eine Infrastruktur, die Armut ist riesig, viele Menschen hungern oder brauchen dringend medizinische Hilfe. Warum hast du dich entschieden, dort eine Schule zu bauen? Es gibt kein besseres Werkzeug, um eine Gesellschaft zu verändern, als Bildung. Bildung hilft den Kindern, ihre Talente zu entdecken und daraus etwas zu machen. Nur so können sie eine eigene Zukunft entwickeln. Es gibt in Marial Bai bereits einige Grundschulen, aber noch keine weiterführende Schule. Die NGOs und die südsudanesische Regierung konzentrieren sich in ihrer Arbeit auf Grundschulen. Aber ich weiß, dass die Kinder einen Schritt weiter gehen wollen. Darum ist es absolut das Richtige, jetzt eine weiterführende Schule zu eröffnen. 2011 soll der Südsudan unabhängig werden. Viele befürchten jedoch, dass der sudanesische Präsident Omar Al Baschir schon längst einen neuen Bürgerkrieg plant. Ich glaube an die Unabhängigkeit des Südsudans. Was immer Menschen wollen, erreichen sie. Ich glaube auch fest daran, dass der Sudan selbst in der Zukunft ein friedliches Land werden wird – und die beiden Nationen dann wie gute Nachbarn nebeneinander leben. Wirst auch du irgendwann wieder im Südsudan leben? Eines Tages werde ich mein eigenes Haus in Marial Bai bauen. Das ist mein Traum.

Text: alexander-juergs - Foto: privat

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