Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Ein Schlag ins Gesicht

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Philip, dein erster Spielfilm heißt "Picco". Wen oder was bezeichnet denn dieser Begriff?
"Piccos", das sind die Neuankömmlinge in Knast – die Kleinen: Das kommt von "piccolo". Im Film ist das der Name für die Hauptfigur, Kevin, der erst mal der Picco ist. Er muss lernen, sich aus dieser Rolle zu befreien und im Gefängnis zu überleben.

Du hast Regie geführt und das Drehbuch geschrieben – das beruht auf wahren Begebenheiten. Auf welchen?
Eigentlich auf einer Vielzahl von Ereignissen, die sich in deutschen Jugendgefängnissen zugetragen haben. Die Initialzündung war Siegburg (2006 wurde ein 20-jähriger Häftling in der JVA Siegburg von seinen Zellengenossen vergewaltigt und ermordet, Anm. d. Red.). Weil es mehrere Folterskandale in Deutschland gab, ist es nicht nur dieses Ereignis. Siegburg war aber der Anstoß, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich hab ein Jahr lang recherchiert und mit Amtsleitern, Bediensteten und Insassen gesprochen. Da beobachtet man dann, dass ein Häftling über DVD von der Geburt seines Sohnes erfährt – das ist so passiert und das habe ich in "Picco" aufgenommen. Mosaikartig hab ich Wirklichkeitsfragmente zu dieser Geschichte geformt.

Hast du dich auch in der JVA Siegburg umgeschaut?
Was ich sehr schade finde, ist, dass die uns in Siegburg alle Türen zugemacht haben. Die werden natürlich mit Presse überrollt. Nach dem Foltermord gab es ja noch zwei weitere Selbstmorde binnen kürzester Zeit. Die Gefängnisse versuchen, negative Nachrichten zu vermeiden – negative Nachrichten bedeuten, dass der Amtsleiter gehen muss. Ich dachte mir: Es ist nicht nur interessant, den Siegburg-Fall zu erzählen, sondern ein Kaleidoskop zu schaffen, damit viele Schicksale von Jugendlichen in Haft in den Film kommen.

Habt ihr an Originalschauplätzen gedreht?
Wir haben in der alten JVA Landshut gedreht. Die wurde ein Jahr vor Dreharbeiten stillgelegt. Wir hatten dann auf einmal ein ganzes Gefängnis, in dem wir uns für fünf Wochen einnisten konnten und das bezahlbar war. Die konventionellen Gefängnisse für Filmproduktionen, im Studio nachgebaute Zellen – das wäre zu teuer gewesen und für die Authentizität nicht so eindrucksvoll. Die Zellenschmierereien, die Betten und Spinde standen da genau so. Das ist nicht von uns gemacht, vieles von der Einrichtung ist tatsächlich Original.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Im grün-blauen Schein der JVA ist sich jeder selbst der Nächste

Bildet der Film die Probleme in einem bayerischen Jugendgefängnis ab oder steht das Geschehen in "Picco" für die gesamtdeutsche Situation?
Das steht definitiv für die gesamtdeutsche Situation. Ich hab in Bayern besonders viele Gefängnisse besucht und muss sagen, dass in Bayern die Verhältnisse besser sind als zum Beispiel in NRW. Die JVA Leipzig ist sehr modern und trotzdem gab es dort auch einen Folterskandal. Modernität hat also offenbar nichts damit zu tun.

Geht es in deutschen Justizvollzugsanstalten nicht humaner zu als an vielen anderen Orten der Welt?
Es ist auf jeden Fall so, dass die sanitären Verhältnisse viel besser sind als im europäischen Ausland. Was in Frankreich passiert, ist horrend. Aber solche Dinge wie in Siegburg, Leipzig oder Herford, die passieren nicht im Ausland, obzwar die hygienischen Verhältnisse in Deutschland deutlich besser sind. Das ist ein Beweis dafür, dass es nichts damit zu tun hat, wie „schön“ oder modern ein Gefängnis ist. Es geht vielmehr um soziokulturelle Aspekte.

2009 waren 6.344 Menschen in deutschen Jugendgefängnissen inhaftiert. Der Alterdurchschnitt liegt bei 19. Jährlich nehmen sich etwa 100 junge Sträflinge das Leben. Was müsste sich in den deutschen Jugendgefängnissen ändern?
Das ist natürlich die Frage der Fragen. Ich wollte mit dem Film ganz bewusst keine Lösung offerieren, sonst wäre das so ein Lehrfilm mit erhobenem Zeigefinger geworden – das liegt weit außerhalb meiner Kompetenz als Filmemacher. Mein Ziel war es, dieses System so genau, authentisch, realistisch zu zeigen, wie es geht – das Ganze mit einem Vergrößerungsglas zu beobachten. Es ging darum, die Menschen tief zu bewegen, damit sie sich Gedanken machen und so eine politische Debatte ausgelöst werden kann. Alan Clarkes Film "Scum" von 1979 über britische Jugendgefängnisse, der sehr aufwühlend ist, hat damals eine kontroverse politische Diskussion entfacht, die sogar zu konkreten Reformen in England geführt hat. Ideell und künstlerisch ist der Film ein Vorbild. Und ein wichtiges Argument, "Picco" so konsequent zu erzählen.

Die Frankfurter Rundschau nennt deinen Film ein "entwürdigendes Schauspiel", legt ihn als pietätlos und unnötig ab. Ist das Thema Gewalt in deutschen Gefängnissen ein Tabuthema?
Es ist vor allem im deutschen Film, aber auch in unserer Gesellschaft ein Tabuthema. Jugendliche in Haft verkörpern die Angst von Eltern, in der Erziehung versagt zu haben. Weil Familie ein wunder Punkt ist, ist dieses Thema schwer. Das andere Thema ist Zivilcourage, was vor allem im letzten Drittel des Films verdichtet wird. Zentral ist eine Täter-Opfer-Ambivalenz: Jeder ist Opfer und jeder ist Täter im Jugendgefängnis. Der Film spielt enorm mit Ambivalenzen und polarisiert, weil er den Zuschauer zwingt zu einer Meinung. Hätte ich einen Film machen wollen, den alle Menschen toll finden, hätte ich mir nicht dieses Thema gewählt. Ich wollte einen Film mit einer schreienden Botschaft. Das stimmt sehr viele sehr wütend, andere euphorisch.

Auf der nächsten Seite erzählt uns Philip, was Regisseur und Film heute leisten müssen und ob er mit "Picco" schockieren will.



In einem Interview hast du gesagt, du hättest mit "Picco" "etwas gesellschaftlich Wichtiges schaffen" wollen. Glaubst du, das ist dir gelungen?
Das denk ich schon. Man muss den Kinostart abwarten, um das beantworten zu können. Erst mal passiert der ja in kleinem Rahmen und wird dann hoffentlich ausgeweitet. Der Film kann nur zu Debatten führen, wenn viele Leute den Film sehen. Fachleute an JVAs setzen den Film jetzt schon ein, um das Personal zu schulen und auf Probleme aufmerksam zu machen. Dass der Film gesellschaftliche Relevanz hat, wurde mir auch von den Medien super attestiert. So gesehen ist es also definitiv gelungen. Ob jetzt die Massen darüber sprechen, ist eine andere Geschichte. Das hängt daran, ob es dem Marketing gelingt, viele Leute ins Kino zu bringen. Die Festivals haben gezeigt: Die Leute mussten über den Film sprechen. In Blogs schreiben sich die Leute das von der Seele, weil es die so mitgenommen hat.

Was muss ein Film heutzutage leisten?
Der Film hat nur eine Verpflichtung: Wahrheit aufzuspüren. Wahrheit im Gefühl – egal, ob das unterhaltendes oder politisches Kino ist. Ein Film muss bewegen. Das ist das einzige, wieso Menschen ins Kino gehen. Der politische Film in Deutschland ist tot. Deshalb wollte ich einen politischen Film machen und der deutschen Industrie, die so viel Konsens produziert, einen Schlag ins Gesicht verpassen. "Picco" hat eine klare Haltung, die polarisiert; nur eine klare Haltung kann polarisieren. Es gibt Filme, die sind politischer als andere. Aber Politik spiegelt sich auch im Persönlichen. Selbst Til Schweigers "Kokowääh" ist politisches Kino. Man ist immer irgendwie politisch. Man muss es nur wissen. Dieses Bewusstsein gibt es in Deutschland nicht.

Über 20 Minuten dauert die Szene, in der ein Häftling von seinen Zellengenossen gefoltert, zum Selbstmord gezwungen und letztlich umgebracht wird. Die Gewaltdarstellung in "Picco" hat bei einer Frau in Saarbrücken einen Weinkrampf ausgelöst, in Cannes haben viele Zuschauer den Saal verlassen. Willst du schockieren?
Man hat den Film nicht gemacht, um zu schockieren. Ich bin nicht auf der Suche nach Themen nach dem Motto "Ich will schockieren" – das ist natürlich völlig albern. Ich wollte die Geschichte möglichst authentisch erzählen. Es war dazu wichtig, einen aufwühlenden Film zu machen. Ich habe den Film auch aus einer gewissen Wut heraus gemacht. Natürlich ist er schockierend. Er provoziert, aber nicht grundlos, sondern mit klarer Absicht. Mit klarer Vision.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


"Hätte ich einen Film machen wollen, den alle Menschen toll finden, hätte ich mir nicht dieses Thema gewählt", so Philip Koch.

Schockiert das heute – nach den Bildern aus Guantanamo – denn noch wirklich?
Wenn man sich bis jetzt die Reaktionen auf Festivals ansieht: ja. Ich war sehr erstaunt, dass das so sehr provoziert. Ich war gerade im Schnitt, als "Antichrist" rauskam. Da ist mein Film ja Kinderkram gegen, dachte ich. Als "Picco" in Cannes lief, haben die Leute laut gebrüllt, haben sich angeschrien, haben um den Film gekämpft. Ich bin sehr verwundert – aber gar nicht in einem negativen Sinne – dass der Film tatsächlich so polarisiert. Der Film zeigt ja sehr viel Gewalt im Off: Man sieht keine Nahaufnahmen von Folterdingern.

Bist du schon mal aus einem Film raus, weil dir das Gezeigte zu brutal erschien?
Ja, ich musste bei "Funny Games" zuhause den Film unterbrechen, weil ich zu beklommen war. Ich bin dann einfach mal fünf Minuten an die frische Luft und hab dann weitergeschaut. Bei Pasolinis "120 Tage von Sodom" musste ich ganz viel wegschauen, auch wegen Beklemmung und schockierendem Ekel. Die "120 Tage von Sodom" waren formal auch teilweise eine Inspiration. Der Film ist wunderschön fotografiert, ein wahnsinniger Film. Im Ausland wurde "Picco" auch damit verglichen. Aber meistens mit "Funny Games".

Angst ist das zentrale Motiv in "Picco". Wovor hast du Angst?
Ich hab Angst davor, dass zu wenig Zuschauer in den Film gehen (lacht). Wovor hab ich Angst? Gute Frage. Da muss ich tief in mich reinblicken. Ich hab Angst vor dem Tod. Ich denke einfach, Liebe und Tod sind die zwei zentralen Themen, die es in unserem Leben gibt. Alle anderen psychologischen Empfindungen kommen von Eros oder Thanatos: Bejahung oder Verneinung des Lebens. Letzten Endes sind das zwei Seiten einer Medaille. Der Tod war für mich immer extrem faszinierend – eine Mischung aus sehr beängstigend und sehr faszinierend. Das Thema Tod, das Thema Loslassen, Abschied sagen – in seinen symbolischen Abstufungen ist der Tod etwas sehr Bewegendes, was in seiner Essenz wieder das Leben bejaht. Im Film ist das auch so: Wir sind 104 Minuten lang im Jugendknast eingesperrt – in letzter Konsequenz zusammen mit dem Tod – und wir erleben Freiheit, wenn wir aus dem Kinosaal rausgehen, und können die anders wertschätzen.

http://vimeo.com/19166092

PICCO, D 2010 - Regie und Buch: Philip Koch. Kamera: Markus Eckert. Mit Constantin von Jascheroff, Joel Basman, Frederick Lau. Movienet, 108 Minuten.

Text: jurek-skrobala - Bilder: Movienet, privat

  • teilen
  • schließen