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"Freiheit ist das Recht auf Lust": Michal Hvorecký über seinen Roman, Bratislava und die EU

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City, die Hauptstadt des neuen Supereuropas, in der dein Roman spielt, liegt ausgerechnet in Deutschland. Wie kommt das? Ich habe in den letzten drei Jahren relativ viel Zeit in Deutschland verbracht und für mich ist City eine Mischung aus Berlin und München. Aber sie erinnert mich auch an Flughafengebäude oder Messegelände. Da herrscht so eine künstliche Realität. Selbst der Held, der die meiste Zeit in der irrealen Welt des Internet lebt, fühlt sich in City zu Hause. Da ist er am richtigen Ort. Er sagt an einer Stelle: „Das ist eine Stadt, wo noch keiner gestorben ist.“ In City ist alles jung, frisch und neu, es sieht alles super aus, aber trotzdem steckt hinter der Fassade ein Geheimnis. Da funktioniert 'was nicht. Alles wirkt kühl und unpersönlich, aber dennoch bewegen sich dort Menschen mit Gefühlen, Träumen und Sehnsüchten. Ich denke, dass sich die Welt in diese Richtung entwickelt. Besonders in Deutschland, ständig wird hier etwas umgebaut. Ich bin es nicht gewohnt, mich in solch Hochglanzgebäuden zu bewegen. Bratislava ist ganz anders, viel älter, deshalb hat mich das hier auch so tief beeindruckt und deswegen liegt City vielleicht gerade Deutschland.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In Deutschland liest man zur Zeit genau das Gegenteil dessen, was du in deinem Buch beschreibst: wir sind das Schlusslicht Europas, zu alt und werden bald aussterben. Von Bratislava hört man immer nur, wie jung und dynamisch die Stadt ist und was da passiert. Bratislava ist nicht wirklich eine Großstadt, dort leben nur eine halbe Million Menschen. Ich muss immer lachen, wenn Leute zu mir sagen, wow, Bratislava, das ist die coolste Stadt Europas. Ne, also nicht wirklich, sage ich dann immer. So viel geht da nicht. Das sieht nur in Zeitschriften oder im Fernsehen so aus. Aber natürlich verändert sich Bratislava gerade mit jedem Monat. Investoren stampfen alle paar Wochen auf der grünen Wiese riesige Autofabriken aus dem Boden. Das steckt auch in City drin. Aber für eine Geschichte wie City braucht man etwas Größeres. Wirtschaftlich ist Deutschland reicher, hier könnte diese Stadt schnell gebaut werden. City ist keine reale Stadt, sondern ein Entwurf davon, wie dieses Super-Europa heute aussieht und was für ein Kontinent das ist. Es ist eine Großstadtgeschichte, City könnte überall sein, das finde ich interessant. Meistens kann man als Autor die Übersetzungen des eigenen Buchs nicht lesen, weil man die Sprachen nicht spricht. Bei dir ist das anders. Wie ist das, dein Buch auf deutsch zu lesen? Die deutsche Sprache ist für mich fast eine zweite Muttersprache. Mein Großvater hieß Kirchmeier, also sehr bayerisch, und in meiner Familie war es fast Tradition, deutsch zu sprechen. In Bratislava lebten vor dem Zweiten Weltkrieg Juden, Deutsche, Ungarn und Slowaken zusammen, es war also eine richtige Multikulti-Stadt. Auch heute gibt es noch viele Leute, die deutsch sprechen, weil die deutsche Minderheit nicht vertrieben wurde wie in Tschechien. Hinzu kommt: die deutsche Sprache war in der kommunistischen Zeit, in der ich aufgewachsen bin, die letzte Verbindung nach Westen. Bratislava liegt nur 60 Kilometer von Wien entfernt, weshalb man ständig ORF im gesehen und gehört hat. Das Deutsche war deshalb immer sehr präsent in meinem Leben. Jetzt ist die deutsche Sprache zum ersten Mal Teil meines literarischen Selbst. Ich lese auf deutsch, gebe Interviews auf deutsch, das ist eine neue, spannende Erfahrung. Wie siehst du denn Deutschland heute? Ich bewege mich vor allem in literarischen Kreisen, wenn ich hier bin. Das ist nicht die Realität eines normalen Deutschen. Mich fasziniert, wie die Literaturszene aussieht hier, wie lebendig sie ist. Wenn ich in der Slowakei lese, muss ich Lautsprecher und Mikro selbst mitbringen und alles alleine organisieren. Hier klappt immer alles. Das sagt natürlich nicht besonders viel über Deutschland, aber es sagt etwas, über meine Arbeit hier. Ich habe in Deutschland viele Leute getroffen, die einen ähnlichen ästhetischen Geschmack haben und mit denen ich mich gut verstehe. Man sieht auf einmal, wie Europa kleiner wird. Wir haben ähnliche Interessen und man kann normal kommunizieren und etwas Kreatives schaffen, weil man sich nahe ist. Das war vor zehn Jahren nicht vorstellbar. Glaubst du, dass es wirklich irgendwann ein Europa gibt, in dem Grenzen unwichtig sein werden? Beides wird nebeneinander existieren. Die Großstadt-Kultur wie inBerlin, wo man an Grundschulen 160 Muttersprachen spricht und wie in New York die ganze Welt an einem Ort versammelt ist. Daneben gibt es aber auch Bayern und das Ländliche. In der Slowakei hat man oft das Gefühl, man lebt in der Provinz und ist an der Ostgrenze der EU isoliert. Aber wenn man nach Österreich aufs Land fährt oder in den USA, ist es da genauso schlimm oder sogar noch schlimmer. Die Orte sind unterschiedlich und das ist doch faszinierend. Ich habe in Leipzig auf der Buchmesse einige Lesungen von jungen deutschen Autoren gehört und gemerkt, wie verschieden unsere Geschichten sind. Je mehr wir von diesen Geschichten haben, um so besser ist es, weil jeder eine andere Erfahrung hat. Ich fühle mich stark beeinflusst von den zwei Systemen, die ich erlebt habe: das kommunistische und das superkapitalistische, das wir jetzt in der Slowakei haben. Ich kann deshalb vielleicht etwas Neues zeigen und ein anderes Image der Literatur aus Mitteleuropa verbreiten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Hat sich die Slowakei mit dem Beitritt zur EU vor zwei Jahren verändert? Wahnsinnig viele Sachen haben sich geändert. Meine Generation nutzt die neuen Möglichkeiten sehr. Ich bin ganz begeistert, wie viele junge Leute für eine Zeit ins Ausland gehen, weil ich bisher immer dachte, wir sind eine etwas langsame Nation und nicht gerade aktiv. Aber allein in London leben zur Zeit 30 000 Slowaken. Wir sind die erste Generation, die diese Freiheit wirklich genießen kann. Mein Vater ist Informatikprofessor und meine Familie konnte 40 Jahre nicht reisen. Nach dem Fall des Ostblocks ist er sofort nach Papua-Neuguinea und nach Dubai, um dort zu arbeiten, weil er das Gefühl hatte, im Leben viel verloren zu haben. Gleichzeitig kommen sehr viele Menschen, vor allem Deutsche nach Bratislava. Meine Stadt wird auch schon Gratislava genannt, weil man hier so billig essen und trinken kann. Ist der Roman deshalb so kapitalismuskritisch, weil du erlebt hast, wie der Kapitalismus deine Stadt und dein Land verändert hat? Ich finde nicht, dass der Roman kapitalismuskritisch ist. Literatur sollte sich nicht mit Ideologie vermischen. Die Figuren in deinem Roman sind sich alle selbst entfremdet und süchtig. Ist das keine Kritik? Es ist einfach eine Geschichte. Man muss als Autor doch kein Mentor sein. In der Slowakei haben sich einige Kritiker beschwert, das Buch sei nicht moralisch genug und das Leben des Helden werde nicht verurteilt. Aber wir sind doch nicht mehr im 19. Jahrhundert, wo die Literatur zeigen sollte, wer der Gute und wer der Böse ist. Hey, wir leben in der Postmoderne oder schon wieder in etwas Neuem. Die Entscheidung, ob es positiv oder negativ ist, die muss jeder selbst fällen. Die Figuren sprechen ja auch viel von Widerstand und es passiert sogar eine kleine Revolution. Meine Generation sehnt sich manchmal zurück zur Natur, weg von Marken, weg von Werbung, zurück zu echtem Leben. Der Held beobachtet das alles, denn dadurch, dass er nur im Internet lebt, ist er frei von diesem Konsumrausch. Dadurch wirkt das Buch vielleicht kritisch, aber es soll nichts erklärt oder bewertet werden. Er ist zwar frei von Konsumrausch, aber pornosüchtig. Das Thema Porno hat gerade ziemlich Konjunktur: im Theater, in der Literatur, in der Kunst. Egal, welches Medium man sich anschaut, ob Fernsehen, Radio oder Internet, immer ist Pornografie sofort sehr beliebt. Ich wollte, dass das Buch eine Welt darstellt, die fast wie die Gegenwart ist, aber ein bisschen wilder, extremer und lustiger. Seit Pornografie existiert, übt sie einen unglaublichen Reiz aus. Das spielt im Buch eine wichtige Rolle: diese Faszination von anderen. Das passt gut zum Held der Geschichte, der sich wie ein Ersatzmann fühlt, denn er existiert nur, weil sein Bruder gestorben ist: nicht das eigene Leben leben, sondern ein Leben der anderen. Er sagt auch an einer Stelle über die Pornografie, dass sie die Träume der anderen ist. Das hat mich auch immer fasziniert - zu erfahren, was die anderen träumen. Nur leider erfährt man es nie. Ich glaube, an Pornografie sieht man ein bisschen, wovon die Menschen träumen. „Freiheit ist das Recht auf Lust“, ist der Slogan, mit dem deine Hauptfiguren versuchen aus der Gesellschaft auszubrechen und die Revolution erproben. Warum gerade das Recht auf Lust? Das ist eigentlich ein Zitat von einem Philosophen. Man sagt, wir sind eine visuelle Generation, die mit Farbfernsehen und Werbung aufgewachsen ist. Wir sind die beste Zielgruppe, aber auch wir selber sprechen ständig über unser Image, das Aussehen, den Style. Wir präsentieren uns selber gerne und ständig geht es darum, besser aussehen, besseren Sex zu haben, besser Sport treiben. Lust spielt da eine große Rolle. Aber obwohl uns Zeitschriften überall erzählen, wie man sich besser lieben kann, haben die Menschen immer weniger Sex und es gibt immer mehr Singles und Ersatzbefriedigungen. Das Buch spricht deshalb auch über die menschliche Isolation meiner Generation. Der Held versucht, eine Beziehung zu starten, eine wirkliche Liebe zu empfinden, eine echte Frau zu treffen und mit ihr zu kommunizieren. Er schafft das aber nur in einem Darkroom. Eine normale Frau kann er nicht ansprechen, weil er zu isoliert ist. Wie die Leute, die sich bei einem Blinddate treffen und ohne sich zu kennen, Sex miteinander haben. Das finde ich fürchterlich. City, der unwahrscheinlichste aller Orte" von Michal Hvorecký ist im

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