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Hannah Arendt eine Aufschneiderin? Ach was, sie wollte verstehen

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Angeblich hat Hannah Arendt im Alter von 14 Jahren schon Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen. Das wirkt ein bisschen aufschneiderisch und görenhaft, oder? Ihr Lebensmotto war: „Ich will verstehen!“ Hannah Arendt hat den Drang gefühlt, verstehen zu müssen. Aus diesem Grund hat sie früh Kant gelesen. Das war keine aufgesetzte Sache, wie man das manchmal bei Jugendlichen erlebt, die sich so hervortun wollen. Heute würde man mit Sicherheit sagen, Hannah Arendt war hochbegabt. Aber hochbegabt ist vielleicht das falsche Wort, das klingt so, als könne sie nichts dafür, als sei sie „gesegnet“. Wie hat sich dieser Wissensdrang auf die schulischen Leistungen ausgewirkt? Hannah Arendts großem privatem Interesse stand eine ebenso große Ablehnung dem institutionellen Lernen gegenüber. Zum Beispiel hat sie – die Altgriechisch fließend sprach und einen Griechisch-Zirkel gegründet hat – sich geweigert, in die Griechischstunden zu gehen, die in der ersten Schulstunde stattfanden. Das war einfach zu früh. Hannah Arendt blieb zeit ihres Lebens ein Morgenmuffel.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Bild: AP Was war die junge Hannah Arendt für ein Mensch? Sie war eine sehr ambivalente Persönlichkeit: Sie war einerseits rotzfrech und rebellisch – sie wurde vom Gymnasium geworfen, lief von Zuhause weg und löste durch ihren fünf Jahre älteren Freund einen kleinen Skandal im preußischen Königsberg aus. Andererseits war sie sehr empfindlich und verletzbar. Beides passt natürlich nicht so richtig zusammen, aber diese zwei Seiten haben Hannah Arendt immer geprägt: Der Mut, Dinge zu sagen, die andere sich nicht zu sagen trauen, und gleichzeitig die Angst, verletzt zu werden. Kann diese ambivalente Hannah Arendt ein Vorbild sein? Vorbildlich ist sie – ein Mädchen, das von der Schule geschmissen wird und später einen Skandal nach dem anderen auslöst – in dem eigentlichen Sinne ja nicht. Ich denke aber, dass man sich an ihrem Leben und ihrem Denken sehr gut orientieren kann. Vor allem schöpft man daraus viel Mut – es war sehr mutig von ihr, die mit ihrer Begabung alles hätte studieren können, sich für Philosophie zu entscheiden, ein Fach von dem sie selbst sagte, dass es etwas für „entschlossene Hungerleider“ sei. Dass Hannah Arendt gemacht hat, was sie interessiert, ohne über die Konsequenzen nachzudenken – das ist einfach sehr mutig. Viele osteuropäische Oppositionelle erklärten, dass die Philosophie Arendts ihnen den Mut gegeben hätte, um in den späten Achtzigern aufzubegehren. Sie hat den Begriff „Geburtlichkeit“ oder „Natalität“ geprägt und eine Art „Philosophie des Anfangs“ gebildet: Der Einzelne ist immer wieder ein Anfänger. Andererseits beinhaltet Anfangen bei Arendt auch immer das Zusammenhandeln von Menschen. Die Macht der Masse, das war, was sie faszinierte? Sie hat häufig ein Phänomen beschrieben, das sie fasziniert hat: Wenn Menschen sich zusammentun und etwas bewegen wollen, passiert etwas ganz Seltsames - es entsteht Macht. Und diese Macht der Vielen kann sogar dazu führen, dass totalitäre Systeme zusammenbrechen oder, wie sie sich ausdrückte, „schmelzen wie Butter in der Sonne“. Deshalb kann man auch verstehen, warum Hannah Arendt viel gelesen wird, wenn sich kleine Flämmchen der Revolution auftun. Denn dieses geschichtliche Moment der Revolution war es, wovon sie sich viel erhofft hat. Das gibt Mut, um selbst anzufangen. Den Machtbegriff hat Hannah Arendt strikt vom Begriff der Gewalt getrennt. Sie versucht immer abzugrenzen, wenn sie etwas erklären will, um zu zeigen, wo sich beide Begriffe stoßen und wo die Grenzen sind. Man kann sich das am Besten so vorstellen: Man denkt, dass jemand, der bewaffnet ist, Macht ausüben kann. Für Hannah Arendt ist das keine Macht, sondern nur Gewalt, die vom Einzelnen ausgeht. Macht entsteht nur zwischen Menschen, die sich zusammentun. Hannah Arendt selbst hat Gewalt sehr unmittelbar erlebt: Als Jüdin wurde sie im Nazideutschland verfolgt und ist bis nach Amerika geflüchtet. Trotzdem würde sie sagen, dass die Nazis keine Macht hatten? Die Nazis übten Terror aus, der auf Gewalt zurückging, aber keine Macht. Und dieser Terror hat dazu geführt, dass damals so etwas wie Macht überhaupt nicht entstehen konnte, weil die Einzelnen unter dieser totalen Herrschaft isoliert waren. Die totale Entfremdung hat für sie die Spitze im KZ erreicht, wo der Einzelne sogar den Bezug zu sich selbst verliert und nur noch Material ist.


Später hat Hannah Arendt immer – gewiss aus dieser Vergangenheit heraus – Konstanten in Freundschaften gesucht. Sie hat einmal den Satz gesagt: „Treue ist Ausdruck der Wahrheit.“ Ich habe diesen Satz so verstanden, dass sich etwas dann als wahr erweist, wenn man ihm treu bleibt. Umgekehrt heißt das: Wenn man etwas nicht treu bleiben kann, ist es eben nicht wahr. Hannah Arendt hat ein sehr unruhiges Leben geführt. Für sie war es nach dem Krieg um so wichtiger, den Kontakt zu Freunden wieder aufzunehmen und Freundschaften wieder aufzubauen. Und was ihr wichtig war, dem hat sie auch die Treue gehalten, das beweisen einige lebenslange Freundschaften. In dem Buch „Über die Revolution“ hat sie gesagt, das die Amerikanische Revolution – im Gegensatz zur französischen – eine echte Revolution war. Was würde sie zur momentanen antiamerikanischen Stimmung unter den Jugendlichen in Europa sagen? Das ist durchaus vergleichbar mit der Situation in ihrer Zeit: Während des Vietnamkrieges hat sie sich sehr aktiv in die Politik eingemischt. Andererseits würde sie sicherlich sagen, dass sich die Europäer nicht immer auf ihr „altes Europa“ beziehen und Amerika nicht als das Land der Unmenschen darstellen sollen. Ihr war es wichtig, die amerikanischen Wurzeln zu erhalten. Vieles davon ist in der Politik verloren gegangen und das hat sie angekreidet. Sie war aber amerikanische Staatsbürgerin und liebte das Land. Trotzdem hat sie sich die Freiheit genommen, zu kritisieren. Demokratie war für sie nichts Bleibendes, sondern etwas, das dauernd erneuert und kritisch überprüft werden muss.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Bild: Beltz Verlagsgruppe Hannah Arendt muss eine sehr gute Professorin gewesen sein, andererseits hat sie von ihren Studenten verlangt, ordentlich gekleidet in die Vorlesungen zu kommen und aufrecht zu sitzen. Was begeisterte die Studenten so? Es wird berichtet, dass vor ihrem Büro immer wieder Blumen und Geschenke zu finden waren – das war aber keine Kumpanei, denn Hannah Arendt hatte etwa sehr Preußisches: Sie wollte sich nicht anbiedern, sondern hat im Gegenteil es nicht geduldet, dass sich jemand in ihre Vorlesungen gesetzt hat, um „einfach nur zuzuhören“. Eine andere Seite von der strengen und anspruchvollen Professorin war, dass sie im persönlichen Umgang sehr liebenswert gewesen sein muss. Ist dieser Unterschied zwischen der privat-liebenswürdigen und der öffentlich-strengen Hannah Arendt, der der sich auch in ihrem Denken zeigt, wo sie die Begriffe des „Privaten“ und des „Öffentlichen“ gegeneinander abgrenzt? Sie sagt einmal: „Die Liebe darf nicht auf den Verhandlungstisch.“ Ich glaube, dass es für uns heute etwas fremd ist, dass sie so genau zwischen diesen beiden Begriffen trennt. Sie sagt, dass Freundschaften, Gefühle und alles Persönliche einen Bereich brauchen, der geschützt ist und der nicht auf die Bühne der Öffentlichkeit gezerrt werden darf. Wenn ich aber den Bereich der Öffentlichkeit betrete, muss ich mich exponieren, dann muss ich klar Stellung beziehen, dann gibt es nur Tatsachenwahrheiten – dann bin ich eine andere Person. Das hat sie ja auch in extenso gemacht: Sie war dann aber auch bereit, für ihre zugespitzte Meinung kritisiert zu werden, und war der Überzeugung, dass man dann nicht „beleidigt“ sein darf, sondern Öffentliches und Privates trennen muss.

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