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"Hier sind fast eine halbe Million Menschen HIV-positiv"

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jetzt.de: Karsten, wieso hast du dich so lange mit dem Thema AIDS in der Ukraine beschäftigt? Karsten Hein: Eine Freundin kam vor sechs Jahren aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa zurück und war völlig schockiert darüber, wie dort mit Aids umgegangen wird und wie die Infizierten behandelt werden. Also habe ich 2003 in Odessa den Dokumentarfilm „So wollen wir nicht sterben“ gedreht, doch die Reaktionen in Deutschland waren gering. Wir haben dann eigene Hilfsprojekte gestartet, aber mir wurde klar, dass man mehr über die Hintergründe der Epidemie in der Ukraine informieren muss. Wir sprechen hier über ein Land, in dem ein Prozent der Bevölkerung HIV-positiv ist – fast eine halbe Million Menschen – und das man von Deutschland aus mit dem Flugzeug in zwei Stunden besuchen kann. jetzt.de: Dein neuer Film trägt den Untertitel „Sechs Kapitel über Aids in der Ukraine“. Wieso hast du diese Episodenform gewählt? Karsten: Es gibt ein Geflecht von Gründen für das große Ausmaß von HIV in der Ukraine. Ein Problem sind die Drogen: Zwei Prozent der Ukrainer spritzen sich nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation Drogen – selten Heroin, sondern meist billige Mischformen aus Opiaten oder synthetischen Rauschmitteln. Das ist ein Unterschied zu Westeuropa, wo sich Aids vor allem unter homosexuellen Männern ausbreitete. Um die Sucht zu finanzieren, müssen viele Abhängige klauen und die Frauen verdienen sich das Geld als Prostituierte. In der früheren Sowjetunion ist die Epidemie ein soziales Problem: In den Neunziger Jahren zerbrach der Staat ebenso wie das Gesundheitssystem. Viele junge Leute haben keine Zukunftsperspektive – vor allem im Osten des Landes, wo viele Bergwerke geschlossen wurden. Armut verstärkt die Aidsproblematik. Hinzu kommt ein massiver Wodkakonsum: Acht Millionen Ukrainer gelten als schwere Trinker.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Zwei Mädchen in Kiew bei einer Demonstration: Es geht um mehr Aufmerksamkeit für HIV-Infizierte in der Ukraine. Das Bild stammt aus dem Jahr 2005. jetzt.de: Dein Film zeigt auch die Folgen der Epidemie: Familien zerbrechen, Kinder wachsen ohne Eltern auf. Karsten: Es gibt viele Fälle, in denen die Eltern an Aids oder Tuberkulose sterben und die Kinder ins Waisenhaus müssen. Oft springen die Großeltern ein und kümmern sich um die Enkel, wenn die eigenen Kinder dazu nicht in der Lage sind. Die ganze Alterstruktur dreht sich dort um. Gerade in den Neunziger Jahren haben viele Mütter ihre eigenen Kinder infiziert, weil sie selbst nicht wussten, dass sie HIV-positiv waren. jetzt.de: Deine Hauptdarsteller leben am Rande der Gesellschaft. Du warst in Gefängnissen und hast mit Prostituierten und Junkies gesprochen. War es schwer, an die Leute heranzukommen? Karsten: Nein, eigentlich nicht. Beim ersten Film 2003 hatten die Leute noch sehr viel Angst und kaum jemand wollte sich vor der Kamera zeigen – deswegen ist „so wollen wir nicht sterben“ nie in der Ukraine gezeigt worden. Doch seit der Orangenen Revolution haben die Leute keine Angst mehr, über die Unfähigkeit der Politik oder die korrupte Polizei zu reden. Ich wurde auch bei den Dreharbeiten nicht behindert. jetzt.de: Mehrere Filmszenen sind schockierend und nur schwer anzusehen. Hat dich dieses Elend nicht belastet, hast du daran gedacht, aufzugeben? Karsten: Nein, man gewöhnt sich daran, wenn man in diesem Milieu unterwegs ist. Ich habe erst bei den Vorführungen in Deutschland gemerkt, wie schockiert manche Leute sind, wenn sie die ausgemergelten Körper der Junkies und deren Behausungen sieht. Härter war für mich die Arbeit in Odessa, weil ich damals nicht wusste, was mich erwartet. Manche Erlebnisse von damals haben mich lange nicht losgelassen. jetzt.de: Was hast du damals gesehen? Karsten: Wir haben Aidspatienten unter schrecklichen Bedingungen sterben sehen, ohne Schmerzmittel. In einer Tuberkuloseklinik lagen 20 Menschen in einem Zimmer: Einer im Bett, einer auf dem Boden, einer im Bett und überall das Gehuste. Es war so eng, dass nur mein Kameramann im Zimmer filmen konnte. Ich stand auf dem Flur und habe aus Neugier einen Vorhang zur Seite gezogen: Auf dem Boden lag eine hochschwangere Frau, sie war mindestens im 8. Monat. Die Ärztin sagte später, dort sei es für sie besser als im Zimmer.


jetzt.de: Die ukrainische Gesellschaft setzt sich aber kaum mit HIV/Aids auseinander. Karsten: Das stimmt. Es liegt vor allem daran, dass die meisten Ukrainer die Krankheit mit der Schicht der Drogensüchtigen, Alkoholiker und Gefängnisinsassen verbinden. Vor fünf Jahren haben wir oft gehört, diese Leute seien der „Abfall“ der Gesellschaft und hoffentlich stürben sie schnell. Lange war das Milieu auch sehr abgeschlossen, doch nun ist es in einigen Regionen wie Donezk oder Odessa so weit, dass das Virus über Sexualkontakte auf die Allgemeinbevölkerung übergesprungen ist. Leider ist der Gebrauch von Kondomen in der Ukraine nicht sehr beliebt und viele Menschen wissen kaum, wie sie sich infizieren können.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Karsten Hein jetzt.de: Welche Rolle spielt die Polizei? Wenn es so viele Drogensüchtige gibt, dann muss es ja auffallen. Karsten: Natürlich weiß das die Miliz. Es gibt in der Ukraine sehr viele Polizisten, die schlecht bezahlt werden. Also erpressen manche Polizisten die Drogensüchtigen oder verkaufen ihnen sogar selbst Drogen. In der Ukraine wird schon der Besitz kleinster Mengen sehr hart bestraft und immer wieder haben wir Berichte gehört, dass die Polizei den Süchtigen Drogen zusteckt und verhaftet – denn die von oben vorgegebenen Zahlen müssen ja erfüllt werden. Wer sich nicht freikaufen kann, hat Pech gehabt. In den Gefängnissen gibt es keine Therapie, sondern wieder Drogen und verunreinigte Spritzen, die sich viele Häftlinge teilen. jetzt.de: Was macht die Regierung? Karsten: Es ist einiges in Bewegung hier. Präsident Wiktor Juschtschenko hat die Bekämpfung von Aids zur nationalen Aufgabe erklärt. Das ist ein großer Fortschritt, aber zugleich muss man wissen, dass für viele Abgeordnete Aids einfach kein Thema ist: Unsere ukrainischen Partner berichten, dass von den 450 Parlamentariern 400 Dollarmillionäre sind und denen ist es offenbar egal, wenn die Unterschicht krepiert. Es ist in diesem Land so, dass man sich einen Platz auf der Kandidatenliste kaufen kann – je weiter vorne, desto teurer natürlich. Dabei sind es vor allem die jungen Erwachsenen, die Drogen nehmen und sich infizieren – also diejenigen, die eigentlich arbeiten sollten und das Land voranbringen könnten. jetzt.de: Was kann der Westen für die Situation in der Ukraine tun? Karsten: Es gibt seit einiger Zeit viel Unterstützung aus dem Ausland und von der Uno. So wird etwa die Behandlung durch die antiretrovirale Therapie (ART) finanziert: Heute bekommt zwar erst ein Drittel der ukrainischen Patienten diese Medikamente, aber es ist ein wichtiger Schritt. Da fließen Millionenbeträge und auf einmal ist das Thema für die Verwaltungen interessant. Es kommt darauf an, dass der Staat in die Pflicht genommen wird, nach dem Anschub von außen selbst die Verantwortung zu übernehmen – auch finanziell. Mittelfristig wäre es sicher wichtig, dass die Ukraine eine europäische Perspektive bekommt – also näher an die EU rückt, um etwas gegen die Chancenlosigkeit vieler junger Menschen zu tun. Szenenbilder aus dem Film:

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

jetzt.de: Du hast selbst mit deiner Frau und Freunden ein Projekt gegründet. Welche Unterstützung bietet ihr? Karsten: Wir haben eine Partnerschaft zwischen der Berliner Auguste-Viktoria-Klink und dem Aidszentrum Donezk aufgebaut und helfen mit technischem Gerät und dem Austausch von Fachwissen. Der zweite Schwerpunkt ist die Ausbildung von ukrainischen Pflegekräften, die mit Aidspatienten arbeiten. Geld bekommen wir von Stiftungen und vom deutschen Gesundheitsministerium. Zum Glück sind wir nicht die Einzigen, die etwas machen. Die deutsche Regierung hat gerade ein Partnerschaftsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet, um im Gesundheitsbereich zu helfen. Noch besser wäre es natürlich, wenn sich die deutschen Firmen, die hier investieren, auch im sozialen Bereich stärker engagieren und gute Projekte unterstützen. jetzt.de: Mein Eindruck ist, dass in Deutschland kaum jemand mehr über Aids spricht – dabei gibt es doch auch bei uns weiterhin Neuinfizierungen. Karsten: Ich denke auch, dass viele nachlässig geworden sind. Natürlich ist das Niveau in Deutschland viel niedriger als in Osteuropa und die Leute sind besser informiert. Aber es gibt eine Präventionsmüdigkeit, gerade unter Schwulen. Die vielen Kampagnen haben offenbar zu einem Überdruss geführt und wahrscheinlich braucht man da eine neue Strategie. Wenn man zu oft „Feuer“ ruft und es brennt nicht, dann hört wohl irgendwann niemand mehr zu. Aber auch für den Westen gilt: Es gibt kein Heilmittel gegen Aids. Antiretrovirale Therapie kann nur dafür sorgen, dass sich der Virus im Körper langsamer ausbreitet. Der Dokumentarfilm „Am Rande. Sechs Kapitel über Aids in der Ukraine“ von Karsten Hein wird am Montag den 1. Dezember (Weltaidstag) im Rahmen eines Themenabends um 23.25 Uhr auf Arte ausgestrahlt. Weitere Informationen zu den von Karsten mitinitiierten Projekten und den Film über „Aids in Odessa“ gibt es auf der Website aids-ukraine.org. Es gibt viele andere deutsch-ukrainische Kooperationen, über die man sich auf hiv-initiative-ukraine.org informieren kann. Allgemeine Infos zum Weltaidstag unter: unaids.org.

Text: matthias-kolb - Fotos: rtr

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