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"Ich habe meinen ewig streitenden Eltern viel zu verdanken"

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Nachdem es in sämtlichen englischsprachigen Ländern schon seit der Veröffentlichung im Jahr 2007 als Dauer-Bestseller gilt, ist das sogenannte Nicht-Buch jetzt auch unter dem Titel „Mach dieses Buch fertig“ ins Deutsche übersetzt worden. Nicht-Buch deshalb, weil es getreu seines Untertitels „Erschaffen ist Zerstören“, den Leser dazu auffordert, Dinge mit ihm anzustellen, die ihm im gewohnten Umgang mit Büchern wahrscheinlich eher fragwürdig erscheinen. So findet sich auf jeder Seite eine bestimmte Aufforderung, die etwa lautet: „Für Abdrücke von Händen und Fingern. Mach sie dir schmutzig und presse sie dann hier drauf“, „Kompostiere diese Seite und beobachte ihren Verfall“ oder auch „Ertränke diese Seite in Farbe“. Wir haben mit Keri Smith über den Erfolg des Buches, die Philosophie hinter ihren Büchern und den kreativen Alltag in ihrer kleinen Familie gesprochen. Keri, dein Buch „Wreck this journal“ wird mittlerweile in allen englischsprachigen Ländern als Bestseller verkauft und ist neben fünf weiteren Sprachen jetzt auch ins Deutsche übersetzt worden. Hast du jemals mit so einem Erfolg gerechnet? Niemals! Ich versuche aber generell nicht im Voraus darüber nachzudenken, wie meine Arbeit ankommen könnte. Mein Maßstab ist es, Werke zu schaffen, die ich mir selbst immer schon gewünscht habe. Und dass mich mittlerweile mein Verleger regelmäßig anruft, um mir zu sagen, dass er mein Buch ein absolutes Phänomen findet, freut mich natürlich wahnsinnig. Es zeigt, dass ich gewissermaßen einen Nerv in der Gesellschaft getroffen habe. Weißt du denn noch, wie es genau zu deinem Wunsch nach einem solchen Buch kam? Die Idee zu „Wreck your journal“ entstand, als ich mich eines Tages fragte, wie ich es über die Jahre hinweg geschafft hatte, meine Angst vor der ersten, blanken Seite meines Notizbuches zu überwinden. Die Antwort war einfach: hemmungslose Risikobereitschaft. Von dem kostbaren Ort der sauberen Ideensammlung machte ich mein Tagebuch eines Tages einfach zu einem Experimentationsort- den Anspruch „geniale“ Ergebnisse zu schaffen, schaltete ich aus und begann, herumzuprobieren: Reißen, Knüllen, Werfen, Kleckern, Nähen, Schmuddeln und so weiter. Ein Buch wie „Wreck your journal“ hätte mir den Zugang zu meiner Kreativität sicherlich erleichtert. Es war mir wichtig, dass Hemmungen oder Ausreden wie „Ich habe ja gerade keinen Stift“ nicht gelten. Gras, Dreck, Essen, Lippenstift, Kaugummi oder meinetwegen bloß Spucke – alles sollte einzubeziehen sein. Schon als Kind war ich immer ein Anhänger davon, Herkömmliches umzudrehen und aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Hatte das denn einen bestimmten Grund oder bist du einfach bloß eine rebellische Person? Beides. Ich glaube, ich habe das aber zu großen Teilen dem ewigen Streiten meiner Eltern zu verdanken. Weil ich ihre Auseinandersetzungen nicht ertrug, verbrachte ich die meiste Zeit auf meinem Zimmer und schusterte mir meine eigene Phantasiewelt zusammen. So entwickelte ich das Talent, aus jeder Situation das Beste herauszuholen. Außerdem hasste ich die Schule– der Unterricht langeweilte mich genau so, wie er mich hemmte. Ich verstand nicht, warum ich gezwungen war, etwas zu tun, das mich deprimierte. Also ließ ich mir die verrücktesten Ausreden einfallen, um zu schwänzen. Zu Hause konnte ich experimentieren und basteln. Das machte mich glücklich. Schließlich brach ich die Schule ab und wartete ein paar Jahre, bis ich mich als „mature student“ an der Kunsthochschule bewerben durfte. Ich jobbte währenddessen in einem Buchladen und hatte plötzlich einen Riesenspaß daran mich zu bilden. Ich las wie eine Verrückte. An der Kunsthochschule hatte ich dann zum ersten Mal das Gefühl, richtig zu sein. Und hast du nie an deiner Entscheidung gezweifelt? Vor allem in Anbetracht finanzieller Nöte? Doch, alle paar Wochen wieder. Es liegt in meiner Natur, ständig alles anzuzweifeln. Aber wenn ich dann wieder nächtelang an meinen Ideen arbeitete und Zeit und Raum dabei völlig verblassten, spürte ich, dass es das das Richtige für mich ist. Und immer, wenn ich Ideen, die unter eben solchen Umständen entstanden sind, nach außen trug, bescherten sie mir auch finanziellen Erfolg. Hielt ich sie wiederrum aus Angst vor Misserfolg zurück oder veränderte sie zugunsten jemandes Erwartungen, wurde meine Arbeit eine Pleite. Mittlerweile hältst du ja sogar Vorträge zum Thema „How to live creatively“. Wer kommt eigentlich zu solchen Vorträgen und was erzählst du deinen Zuhörern? Es kommen alle möglichen Leute. Am Besten finde ich es aber, wenn Erzieher und Lehrer meine Vorträge besuchen. Der Gedanke, Einfluss auf das völlig veraltete amerikanische Bildungssystem ausüben zu können, gefällt mir. Ich will den Leute klar machen, wie wichtig es ist, sich den von der Gesellschaft als „negativ“ bewerteten Tätigkeiten auszusetzen: Rebellion, Prokrastination, Zerstörung. Und sie zu ihrem kreativen Vorteil zu nutzen. Genau so, wie ich es in „Wreck you journal“ provoziere. Ich will, dass wir alle aufhören, diese aus Leistungsdruck entstehende Angst als unseren Feind zu betrachten. Und wie funktioniert das genau? Wendell Barry hat einmal gesagt: „Die kleine, furchtvolle Scheu vor etwas ist bloß die erste Berührung mit der unbekannten Wildnis, die du gerade dabei bist zu betreten.“ Statt mich von ihr einschüchtern zu lassen, nutze ich aufkeimende Angst also vielmehr als Aufforderung, meine Hemmungen abzulegen und das Neue einfach geschehen zu lassen. Die Dinge sind dann weder Gut noch Schlecht, sondern einfach nur so, wie sie sind. Und da kommt auch der Zauber der Zerstörung ins Spiel, denn durch sie entsteht plötzlich echte Kreativität – Gegenstände, in diesem Fall das Buch, völlig anders zu behandeln, als wir es gewohnt sind, öffnet uns dafür, alles neu sehen zu können.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Keri Smith, Grafikerin, Künstlerin und Zerstörerin von Büchern. Hast du eine persönliche Lieblingsanweisung in deinem Buch? „Stelle sofort etwas absolut Unvorhersehbares, Zerstörerisches mit dem Buch an“. Die Vorstellung, wie das jemand in der Öffentlichkeit macht finde ich fabelhaft! Außerdem mag ich, dass die Leser die Seiten selbst nummerieren müssen. Das war nämlich gar nicht geplant. Ich hatte bloß immense Probleme, die Seiten mit Zahlen zu versehen, weil ich ständig durcheinander gekommen bin. Ich rief also Stunden vor Andruck ganz verzweifelt meine Verlegerin an und sagte, die Leute müssten das selbst machen. Im Nachhinein finde ich das eine tolle Zusatzaufgabe. Wieder ein Beispiel dafür, was aus geglaubten Hindernissen an Kreativität entstehen kann. Auf flickr gibt es eine Gruppe, in der man die Resultate seines eigens „fertiggemachten“ Buches hochladen kann. Guckst du da eigentlich oft rein? Ja, immer wieder. Toll, was die Leute so anstellen – Dinge, die mir im Leben nicht eingefallen wären. Es gibt dort auch ein Foto von dem Buch meines Mannes, nachdem er es in die Waschmaschine gesteckt hat. Wie ist das bei euch zu Hause denn so? Du hast ja auch einen Sohn - macht ihr den ganzen Tag künstlerische Experimente und darf er all die Dinge tun, die man normalerweise von seinen Eltern verboten bekommt? Wände anmalen zum Beispiel? Natürlich möchte ich ihm etwas davon mitgeben, wie ich die Welt sehe und ihn dazu anstiften, seiner Verrücktheit freien Lauf zu lassen. Trotzdem ist es wichtig, ihm auch gewisse Grenzen zu erklären. Er muss ja auch lernen in der Welt zu funktionieren, mit anderen Menschen umgehen zu können. Aber ja, ein paar angemalte Wände gibt es bei uns schon, da ist in unserem Haus tatsächlich mehr Toleranz vorhanden als anderswo. Sagen wir so: Wir sind für seine Ideen aufgeschlossen, solange er damit niemanden verletzt. Zum Beispiel? Er liebt es, Dinge zu sammeln. Ich habe ihm dafür ein kleines Säckchen genäht, dass er sich an die Hose stecken kann, um all seine Fundstücke mit nach Hause zu nehmen. Außerdem kochen, lesen (Taro Gomi ist unser Lieblingsbuch), singen und trommeln wir viel zusammen, mein Mann ist Musiker. Du hast gerade ein neues Buch veröffentlicht. Es heißt „This is not a book“. Worum geht’s diesmal? „This is not a book“ beginnt in etwa da, wo „Wreck this journal“ aufhört. Es stellt die Frage, was ein Buch sein kann, wenn man seine eigenen Ideen dazu addiert. Es basiert auf meiner Theorie, dass die Welt mit genug Fantasie eigentlich immer genau so sein kann, wie man sie gerne hätte. Verrätst du uns ein Beispiel? Eine Seite sagt: „Das hier ist ein imaginärer Ort. Stell dir vor, du hättest deinen eigenen Planeten. Wie würde er aussehen? Was würden für Leute darauf wohnen, wie wäre das Wetter? Oder: „Dieses Buch ist noch viel mehr als nur ein Buch. Vielleicht ist es ein Werkzeug. Erfinde 50 Möglichkeiten, was es noch sein könnte.“ Und wie sehen deine Zukunftspläne aus? Ich habe gerade ein weiteres Buch beendet, das diesen Herbst herauskommen wird. Ich habe noch viele Ideen für Bücher in meinem Kopf - dem werde ich wohl noch eine Weile nachgehen. Ich möchte zum Beispiel bald auch einmal mit völlig neuen Buchformen experimentieren, die digitale Zukunft des Buches finde ich sehr spannend. Die Möglichkeiten des sozialen Netz könnten das Buch auf eine interessante Art und Weise von seiner passiven und sehr festgelegten Existenz weg- und weiterbringen. Vielleicht möchte ich auch einmal einen Film drehen. Oder eine Zeit lang in einem Camper wohnen. In meinem Leben so wie in meinen Büchern dreht sich alles darum, immer wieder den Status quo zu hinterfragen - das möchte ich mir bewahren. Auf ihrem vielbesuchten Weblog The Wish Jar teilt die 39-jährige Autorin zusätzlich jede Menge ihrer Ideen, die zu einem besseren, weil kreativeren Leben anregen sollen – es gibt eine Sammlung von etwa 100 Ideen beliebiger kreativitätsfördernder Tätigkeiten wie „Zeichne deinen Müll“ oder „Schreibe über das Verhältnis zwischen dir und deiner Waschmaschine“ sowie Anleitungen zum Superhelden-Dasein oder Tipps für eine Karriere als Guerilla Künstler. Auf jetzt.de teilen die beiden User billybudd und bernweich seit vielen Wochen ihre Interpretationen der 100 Ideas. Text: mercedes-lauenstein - Foto: Keri Smith Video: Autorin

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