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"Ich mag blonde, apathische Mädchen"

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Loretta ist Mitte Zwanzig und führt in Berlin ein hippes Leben ohne Ziel - wenn ihr Freund ihr für den Tag nicht aufschreibt, was sie tun soll, streift sie ziellos umher, ein Mädchen, das nicht erwachsen wird und die meiste Zeit ihres Lebens in einer Art Trance verbringt. Dann wird sie schwanger und gerät in ein Mädchen-Camp. Was das ist? Wer Loretta ist? Julia Zange hat Loretta zur zentralen Figur ihres Buches Die Anstalt der besseren Mädchen gemacht, das im September bei Suhrkamp erschien. jetzt.de sprach mit ihr über das "Erwachensein einer Kate Moss" und Julias Selbstdarstellung auf Myspace. jetzt.de: Julia, du beschreibst deine Romanfigur als "so erwachsen wie Kate Moss" und lässt sie tagelang antriebslos und vereinsamt durch Berlin streifen. Selbst die Schwangerschaft lässt Loretta nicht aus ihrem tranceartigen Komazustand erwachen. Warum gestattest du deiner Heldin keine psychologische Entwicklung zu? Julia: Weil Loretta ein Kind ist. Und selbst wenn ein Kind ein Kind bekommt, wird es dadurch nicht automatisch erwachsener, sondern möglicherweise nur verstört. Ich frage mich, warum so viele Leser eine Entwicklung von ihr erwarten? Eine Entwicklung des Aufwachens würde sie ja nur der Realität gefügig machen. Wenn sie sich nicht entwickelt, wird sie natürlich in dieser Welt scheitern und ein kleines Tier bleiben. Das ist der Preis. Ich denke übrigens, dass Kate Moss eine ziemlich verantwortungsvolle Mutter ist. Du beschwörst in deinem Debütroman ein ganz bestimmtes Mädchenideal, das Bild einer Kindfrau, blond, passiv, orientierungslos ... besonders feministisch liest sich das ja nicht gerade. Das wäre die zweite Entwicklungsart, die nicht stattfindet: die der Emanzipation. Loretta wagt einen Versuch, landet aber nur in der nächsten Abhängigkeit. Ich befürworte das natürlich nicht. Ob es ein Mädchenideal ist, ist die Frage. Lorettas Dasein wird ja nicht als zu erstrebendes Ideal dargestellt. Ich mag blonde, apathische Mädchen trotzdem. Auf jeden Fall hat es Schattenseiten, aber das Leben von selbstgerechten Emanzen hat auch Schattenseiten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Julia Kannst du kurz erklären, was es mit diesem David Hamilton-artigen Mädchen-Camp im Roman auf sich hat? Loretta, die Protagonistin, flieht mit ihrem Baby von Berlin aufs Land und wird durch Zufall oder Schicksal auf einen alten, verwunschenen Hof geführt. Es leben dort nur Mädchen, teilweise mit ihren kleinen Kindern, die alle unglaublich schön und auch einigermaßen intellektuell sind. Exzessiver Spaß ist dort Gesetz, aber gleichzeitig gibt es auch religiöse Elemente. Es ist eine poetische Gemeinschaft, irgendwie amorph, sie bauen ihr Gemüse selbst an, haben untereinander Sex und gestalten sehr bewusst Kunstwerke fürs Museum. Berlin wird als seelenlose, glitzernde Konsumgesellschaft, bestehend aus szenigen Galerie-Partys und öden Künstler-Zirkeln beschrieben. Du lebst dort - findest du die Stadt wirklich so unerträglich? Nein, ich finde mittlerweile, dass Berlin gerade der beste Ort der Welt ist. Die Stadt wirkt wie ein Magnet. Wenn man sich auf den Kunstzirkus einlässt, ist es auch durchaus amüsant. Davon abgesehen bietet Berlin immer noch viele charmante Brachflächen und Orte, welche die Zeit vergessen hat, manche Lokale in Ost-Berlin zum Beispiel oder Parks. Die Stadt ist ein bisschen wie ein Vanitas-Gemälde, nur vom Verhältnis umgekehrt. Der viel mächtigere, morbide Anteil wird von künstlicher, glänzender Dekadenz durchsetzt. Manchmal ist Berlin aber wirklich unerträglich und ein böser Sumpf. Dein Roman weist starke Bezüge zu Vladimir Nabokovs Lolita und Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen auf. Welche literarischen Vorbilder hast du? Vielleicht Christian Kracht, Heinrich von Kleist, Gertrude Stein und Oscar Wilde.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich glaube, das Leben ist zu kurz, um sich anzustrengen lautet einer der Kernsätze aus Lorettas Mund. Ist das die Quintessenz deines Debütromans? Das ist eine gute These. Ich bin mir aber nicht sicher. Wenn man über das Leben nachdenkt, muss man halt entweder resignieren oder sich eine wahnsinnig gute "Als ob es Sinn gäbe"-Strategie ausdenken. Was ist deine Sinn-Strategie? Was machst du denn, wenn du nicht schreibst? Ich gehe zur Uni, zeichne und mache Collagen, verbringe Zeit in der Bibliothek, besuche einen Videokurs und arbeite in einer Galerie. In letzter Zeit koche ich oft Kürbissuppe. Schreiben nimmt gerade den geringsten Teil des Tages ein. Ich denke nur viel darüber nach. Was mir aufgefallen ist: Du bist auch auf MySpace vertreten. Eher ungewöhnlich für einen Schriftsteller. Warum? Ich hatte da schon lange meinen privaten Account, weil man über Myspace viele Künstler und Musiker entdeckt und zu manchen Leuten einen losen Kontakt halten kann. Generell ist es eine gefährliche aber unterhaltsame Inszenierungshölle. Ich mag die Ästhetik, die immer ein bisschen improvisiert aussieht, nicht so vollkommen modularisiert wie auf StudiVZ oder Facebook. Für mich sind Bilder beim Schreiben sehr wichtig und bei Myspace drückt sich so viel über Bilder aus. Ich glaube Myspace, oder generell das Internet, überästhetisiert auch die Leute, die damit aus Berufsgründen gar nichts zu tun haben, also fast alle. Man schickt seinen Freunden Bilder und Videos, die man schön findet. Ein gegenseitiges Bilderbombardement findet da statt. Die Kommunikation hat sich somit auch verschoben, denn man schreibt oder spricht stattdessen weniger.

Text: katja-peglow - Foto: Christoph Schemel

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