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"Ihr braucht kein schlechtes Gewissen zu haben"

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jetzt.de: Frau Picot, ich bin selbst Schülerin in der 11. Klasse am Gymnasium. In den letzten Jahren habe ich mich in verschiedenen Bereichen ein wenig ehrenamtlich engagiert, aber seit ich in der Oberstufe bin, habe ich mich aus diesen Bereichen mehr und mehr zurückgezogen. Was würden Sie sagen, wie groß muss mein schlechtes Gewissen sein? 
Picot: (lacht) Also erstmal kann ich dir sagen, dass du überhaupt kein schlechtes Gewissen zu haben brauchst. Du kannst das Engagement zu irgendeinem späteren Zeitpunkt in deinem Leben wieder aufnehmen. Außerdem geht es dir sicher wie vielen G8-Schülern so, dass du unter zunehmendem Zeitdruck leidest, denn die engagieren sich ja deutlich weniger als diejenigen, die noch das G9-Abitur machten.  

Wie dramatisch ist diese Veränderung?  
Während sich Schüler im G9  zu 51 Prozent freiwillig engagieren, sind es im G8 nur noch 41 Prozent. Wobei Gymnasiasten unter Schülern generell die weitaus engagierteste Gruppe sind. Mir ist wichtig, dass das nicht so verstanden wird, dass Jugendliche sich wenig engagieren. Als man die entsprechende Studie 1999 zum ersten Mal durchführte, war man im Gegenteil überrascht, in welch hohem Maße junge Leute sich betätigen, nämlich mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung. Jugendliches Engagement ist keineswegs im Verschwinden, aber man kann eine Entwicklung feststellen, dass Jugendliche etwas weniger tun. Gleichzeitig werden ältere Menschen aktiver. Und trotzdem steigt die Bereitschaft der Jugendlichen. Es liegt nicht an der Motivation. Sie wollen sich engagieren.  

Woran liegt es dann?   
Einer der Gründe ist, wie vorhin erwähnt, die Zeitknappheit von Schülern und Studierenden, deren Ausbildungsgänge sich ja jetzt verkürzen. Ein weiterer Grund ist, dass, anders als alle immer denken, die Leute mehr umziehen als früher. Es gibt weniger junge Leute, die noch an ihrem Geburtsort leben. Und wenn man irgendwo neu ist, müssen alle Kontakte neu geknüpft werden - auch die Kontakte zu den Strukturen, in denen man sich engagiert.   

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Sybille Picot

Was verstehen Sie eigentlich unter Engagement?
Dazu möchte ich erklären, was der Ansatz meiner Studie ist: Das, was wir da zum dritten Mal durchgeführt haben, war der sogenannte Freiwilligensurvey. Zuerst wird dabei nach der Zugehörigkeit zu einer benennbaren Gruppe gefragt, wie zum Beispiel zu einem Verein oder einer Initiative. Diese Leute nennen wir die Aktiven. Dann fragen wir weiter, ob da nur mitgemacht wird oder auch freiwillig und unentgeltlich Aufgaben übernommen werden. Diejenigen, die das tun und somit Verantwortung tragen, sind die freiwillig Engagierten. Da gibt es natürlich eine große Vielfalt an Bereichen: ein sehr großer Bereich ist der Sport, außerdem die Kirche, die Schule, Freiwillige Feuerwehr und Rettungsdienste, Kultur und Musik, Umwelt und Naturschutz, Politik und vieles mehr.  

Ist die von Ihnen beobachtete Entwicklung eine vorübergehende Phase, die nur so lange andauert, bis sich die jungen Leute an die neuen Systeme gewöhnt haben? Oder müssen wir dagegen etwas unternehmen?  
Es gibt in Deutschland eine Tendenz zur Ganztagsschule. Früher hatten Schüler den Luxus, nachmittags freie Zeit zu haben. Heutzutage ist das nicht mehr so, und diese Entwicklung geht weiter. Wenn man das Engagement fördern will, muss man also etwas tun. Zum Beispiel sollten Vereine, Verbände, Hilfsorganisationen in die Schulen gehen und die Schüler für ihre Aktivitäten interessieren. Man sollte ein sogenanntes Service Learning, also Lernen durch Engagement einführen. Dabei wird das freiwillige Arbeiten in den Unterricht und in die Lehrpläne eingebunden und das klassische Lernen wird durch Verantwortung im Schulumfeld ergänzt. Außerdem müssen Freiräume für das Engagement der Schüler geschaffen werden. Es sollten alle Schultypen eingebunden werden, um zum Beispiel auch Jugendliche mit Migrationshintergrund besser zu erreichen. Das ist wirklich sehr wichtig.  

Warum ist es so wichtig? Was würde verloren gehen ohne Freiwilligenarbeit? 
Vor allem kann man beim ehrenamtlichen Engagement unglaublich viel lernen. Von fachbezogenen Fähigkeiten mal ganz zu schweigen, also zum Beispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr. Man lernt viel über den Umgang mit Menschen und erwirbt pädagogische Fähigkeiten. Man lernt etwas zu organisieren oder vor Publikum zu sprechen. Außerdem erfährt man so etwas wie Selbstwirksamkeit, das Gefühl, selbst etwas verändern zu können. Andersherum gesehen würde für die Gesellschaft eine große Unterstützung wegbrechen. Durch den demografischen Wandel sind wir auf die weniger Jugendlichen, die es gibt, umso mehr angewiesen. Und die braucht man auch, wenn man etwas verändern will.   

Die Autorin ist zurzeit Schülerpraktikantin in der Redaktion von jetzt.de.



Text: hannah-arnu - Foto: privat

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