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„Jeder ist ein Gastgeber und jeder ist ein Gast“

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Wäre es nicht schön, wenn es in einer fremden Stadt eine Wohnung gäbe, in der man umsonst schlafen kann? Ja, wäre es. Darum organisiert der „Travel Club“, eine in Serbien gegründete gemeinnützige Organisation für Individualreisende, jetzt zum vierten Mal das sogenannte „Travel House“. Ab dem 1. Juli soll es in Athen für acht Wochen eine Gratis-Wohnung für Reisende geben, die wie eine Mischung aus Airbnb, Couchsurfing und Jugendherberge funktioniert: Die Organisatoren mieten sie an und statten sie aus, mindestens einer von ihnen ist immer als Ansprechpartner anwesend, das Wohnen kostet nichts und jeder ist willkommen. Das Crowdfunding läuft noch.

In den vergangenen drei Jahren gab es das Projekt schon in Istanbul, Granada und Tiflis. Kristina Ivsic, 30, aus Novi Sad (Serbien) ist eine der Organisatorinnen und erzählt, wie das Travel House funktioniert, was die Nachbarn sagen und wieso Reisende aus Balkanländern länger bleiben dürfen als andere.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Kristina arbeitet eigentlich an der Uni in Novi Sad. In ihrer Freizeit hilft sie bei der Organisation des Travel House.

jetzt.de: Ihr wollt das Travel House jetzt zum vierten Mal eröffnen. Wie viele Gäste waren bisher da?
Kristina Ivsic: In Istanbul waren in acht Wochen 224 Gäste aus 36 Ländern da, in Granada 219 aus 40 Ländern und in Tiflis 341 Gäste aus 38 Ländern. Der älteste Gast bisher war 64 Jahre alt – und der jüngste 10 Monate. Manchmal wohnen bis zu 30 Leute auf einmal in der Wohnung.

So viele! Bekommt da jeder einen Schlüssel?
Das läuft sehr spontan – normalerweise ist die Wohnung ja nie leer, irgendjemand ist immer da. In Istanbul und Granada hatte aber glaube ich am Ende fast jeder einen. Da hatten wir dann ... vielleicht so 50 Schlüssel?

Wie entscheidet ihr, in welcher Stadt es das Travel House geben soll?
Wir versuchen immer in Städte zu gehen, von denen aus man auch gut an andere Orte kommt. Die Stadt darf auch nicht zu teuer sein, weil unser Budget ja begrenzt ist, und sie sollte kulturell interessant sein und so groß, dass man dort fünf Tage bleiben kann und es genug zu entdecken gibt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Im Travel House wird viel geteilt. Zum Beispiel das Essen.

Wie findet man in einer fremden Stadt eine Wohnung, die geeignet ist – und einen Vermieter, der da mitmacht?
Das ist immer ein sehr spontaner Prozess. Erstmal muss man ja abwarten, ob genug Geld zusammenkommt. Und dann muss man zehn Tage oder eine Woche vor Eröffnung des Travel House in eine Stadt, die man nicht kennt, und da Leute kontaktieren. Es ist wichtig, dass man sich einen Einheimischen sucht, der hilft, die Stadt kennt und die Sprache spricht. Und dann ist es halt auch sehr schwierig, eine Wohnung für nur zwei Monate zu mieten. In Istanbul wusste der Vermieter am Ende gar nicht, dass die Wohnung ein Travel House sein soll – wenn du jemanden sagst: „Hier werden über zwei Monaten ungefähr 200 Leute wohnen!“, dann vermietet dir ja keiner was...

Zurecht?
Also bisher ist nie was passiert, außer, dass wir am Ende mal ein bisschen draufgezahlt haben, weil gestrichen werden musste. Wir suchen auch immer nach einer Wohnung, die unmöbliert ist. Zum einen ist dann weniger da, was kaputt gehen oder schmutzig werden kann, zum anderen ist mehr Platz, um zu schlafen.

Wie stattet ihr die Wohnung aus?
Wenn es keinen Kühlschrank gibt, kaufen wir einen, und ansonsten versuchen wir, das Nötigste anzuschaffen, Sachen, die man als Reisender nicht immer mit sich rumtragen will, Shampoo, Seife, Toilettenpapier, so was.

Auch Lebensmittel?
Ja, dazu erzähle ich immer gerne eine Anekdote: Im ersten Jahr im Istanbul hat jeder was in den Kühlschrank getan und niemand hat vom Essen der anderen genommen. Manchmal, wenn Leute abgereist sind, haben sie ihre Reste dagelassen – die sind dann natürlich vergammelt. Irgendwann wollte keiner mehr den Kühlschrank aufmachen, weil es so gestunken hat. Und dann haben wir ein Fach im Kühlschrank zu einem allgemeinen Fach gemacht, aus dem sich jeder bedienen darf und in dem man seine Sachen lassen kann, wenn man abreist. Das haben wir in den anderen Städten dann auch so gemacht. Wenn man zum Beispiel spät ankommt und alle Läden geschlossen haben, gibt es so trotzdem noch was zu essen, das ist super.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Feste Regeln gibt es keine. Aber abends sollte man schon leise sein, wenn man mit bis zu 30 Menschen eine Wohnung teilt.

Gab’s, abgesehen vom stinkenden Kühlschrank, irgendwelche Probleme oder Konflikte?
Im Haus nie, es gab nie Streit und es waren auch nie aggressive Gäste da. Das ist schön und gibt dir irgendwie das Vertrauen in die Menschlichkeit zurück, falls du es nicht mehr hattest (lacht). Aber wir hatten ein paar Probleme mit Nachbarn. Klar haben wir immer Bescheid gesagt, dass da mehr Leute sein werden als nur wir, aber ein paar Nachbarn fanden das lästig. Oder sie waren misstrauisch, wenn sie gesehen haben, dass Ausländer kommen. Aber bisher hat sich alles friedlich regeln lassen.

Gibt es einen Regelkatalog oder so?
Schon, aber ich nutze das Wort „Regeln“ eigentlich immer in Anführungszeichen. Es ist nicht so streng, es gelten halt die „Regeln“, die gelten, wenn man sich ein Haus teilt: Schuhe ausziehen, am Abend leise sein, jeder spült seine Sachen ab und macht mal sauber und so weiter. Und es funktioniert. Am Anfang dachten wir, wenn mal 20 Leute in einem Raum schlafen, das wird doch chaotisch. Aber in Istanbul war ich total erstaunt zu sehen, wie gut das funktioniert hat. Jeder hat jedem geholfen und es wurde viel geteilt. Das schöne am Travel House ist, dass es keine Gastgeber-Gast-Beziehung gibt: Jeder ist ein Gastgeber und jeder ist ein Gast.

Darf man eigentlich so lange bleiben, wie man will?
Nein, gibt eine bestimmte Anzahl von Tagen, damit möglichst viele kommen können. Wenn man einen guten Grund hat und Platz ist, kann man natürlich auch mal länger bleiben. Dieses Jahr in Athen werden es vier Tage sein für alle, die nicht aus dem Balkan und Ex-Jugoslawien kommen, für Reisende aus Balkan-Staaten sechs Tage.

Wieso dürfen die länger bleiben?
Der Travel Club, der das Travel House organisiert, wurde gegründet, um hier in der Region Individualreisen zu fördern. Die Leute aus den Balkan-Staaten hatten in der Vergangenheit wegen der Kriege und der schwierigen politischen Situation wenig Chancen zu reisen.

Als nächstes dann also Athen. Wann geht’s los?
In zehn Tagen werden zwei von uns nach Athen fahren und eine Wohnung suchen. Wir wollen am 1. Juli eröffnen und bald sollten die Anmeldeformulare auf der Webseite sein. Wir können die Adresse des Travel House ja nicht öffentlich auf die Webseite schreiben, aber wenn man sich anmeldet, bekommt man eine Mail mit allen Infos.

Zum Schluss noch: Was war dein liebster Moment im Travel House?
Oooh, das ist schwer, ich liebe das Travel House und bin da echt enthusiastisch! Ich genieße jeden Moment dort. Außer den, wenn ich am Ende den Boden putzen muss.

Text: nadja-schlueter - Fotos: oH

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