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Kotzen gegen die Welt der Fresser

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In deinem ersten Roman „Tauchertage“ hat der Zivi Kilian Lohmann Bulimie. Die „Tauchgänge“, wie er die Kotzsessions nennt, sind sehr detailreich beschrieben. Wie hast du recherchiert? Die Recherche hatte drei Säulen: Einmal Betroffene, die ich kenne, dann einen befreundeten Arzt, der sich damit befasst, und drittens Internet und Literatur. Ich beschäftige mich ja auch in meiner Dissertation mit Hunger und da geht es auch am Rande um Bulimie. Also nicht aus persönlicher Betroffenheit – wenn es sein muss, bin ich ein miserabler Kotzer.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Obwohl Kilian sehr intelligent und wortgewandt ist, zerstört er seinen eigenen Körper bis an den Rand des Todes. Wie passt das zusammen? Frei nach Lessing: „Nicht jeder, der seiner Fesseln spottet, ist auch frei.“ Intelligenz ist ja nicht unbedingt die Gewähr für ein glückliches, sorgloses Leben. Bei Kilian ist das sicher verschränkt. Dass er sehr viel nachdenkt und wahrnimmt, trägt ja nicht zu seiner Gesundwerdung bei, sondern belastet ihn eher. Ich sehe da keinen Widerspruch. Kilian ist ja eigentlich ein untypischer Krankheitsfall. Weniger als zehn Prozent der Bulimie-Kranken sind Männer. Wieso erzählst du die Geschichte eines Mannes mit der Krankheit? Als Trendthema ist das in den Medien schon präsent. Man geht, glaube ich, von 80.000 essgestörten Männern in Deutschland aus. Es gibt einige mehr oder minder im Selbstverlag erschienene Berichte, die mich aber weniger interessiert haben. Mich interessieren auch nicht Geschlechterrollen, sondern die Struktur, die hinter der Krankheit steht. Da denke ich schon, dass in den letzten 20 Jahren Männer, was ihren Körper angeht, immer mehr einem ähnlichen Druck ausgesetzt sind wie Frauen. Im Roman spielt ein ästhetischer Druck aber kaum eine Rolle. Ich denke doch. So wie die Figur Kilian angelegt ist, ist für ihn äußere Perfektion eigentlich die Bedingung, unbefangen denken zu können. Er hat Angst davor, zum Misanthropen zu werden, nur weil er mit seinem eigenen Körper nicht zufrieden ist. Das wird im Roman aber eher vorausgesetzt, weil ich davon ausgehe, dass der Körper heute das erste semiotische Schlachtfeld ist und vielleicht auch das wichtigste. Er versucht sich zu entmaterialisieren. Das findet man eher bei der Magersucht. Aber auch Kilian treibt an, dass er ein Zeichen für Verzichtfähigkeit sein will. Damit, sich aus der Welt zu hungern, kann die Figur wenig anfangen. Sie legt es eher darauf an, ein Körperzeichen zu werden, das an der Grenze zum Verschwinden angesiedelt ist. Kilian möchte etwas sagen und weiß, dass der Körper der Hauptsendemast ist. Vieles ist eben schon gesagt, bevor man den Mund aufmacht. Im Krankenhaus trifft Kilian einen Magersüchtigen namens Hagen, dessen zarte Linien ihn sehr berühren. Hagen steht in der Tradition des Dandys, des Hungerästheten, der eben von Luft und Bewunderung lebt. Das Modell ist ja nicht erst seit dem heroin chic der 90er salonfähig, das gab es zum Beispiel schon bei Lord Byron. Verzichtfähigkeit demonstriert Unabhängigkeit von der profanen Welt der Fresser. Das bewundert Kilian ganz sicher. Da ist viel mehr Disziplin. Man kann natürlich darüber streiten, inwiefern das Kotzen nicht auch sehr viel Disziplin erfordert, obwohl es erstmal disziplinlos aussieht. Im Buch wird eine Differenz zwischen Magersucht und Bulimie aufgemacht. Hagen ist jemand, der, wie er selbst sagt, den Kampf mit dem täglichen Essen schon hinter sich hat. Das ist den Bulimikern verwehrt. In medizinischen Berichten liest man immer wieder, dass sich irgendwann ein Gewöhnungseffekt einstellt und Anorektiker ihren Hunger tatsächlich nicht mehr so stark erleiden. Auf der nächsten Seite: Welche Rolle spielt Sex in Christophs Buch? Und was hat das alles mit Bourdieu zu tun?


Obwohl Kilian immer wieder darüber monologisiert, warum er eigentlich ständig kotzt, hat er selbst keine Antwort. Wieso lebt er nicht einfach so geordnet und glücklich wie seine große Liebe Charlotte? Das Sich-Nicht-Festlegen-Wollen ist sicher ein Merkmal sowohl seiner Persönlichkeit als auch der Bulimie. Man frisst, obwohl man eigentlich nicht fressen will, löst das vermeintlich, indem man kotzt, manövriert sich damit aber natürlich nur tiefer hinein. Er leidet darunter, dass er nicht weiß, wie er sich selbst positionieren soll, wie er Realität verstehen soll, aber dass dieses Zögern trotzdem eine Realität schafft, die immer enger wird. Charlotte sagt zu Kilian an einer Stelle, dass sie jetzt auf der Stelle mit ihm schlafen würde, wenn sie ihn nicht so sehr lieben würde. Das liest man bei jungen Autoren zur Zeit häufiger: Wirklich Nähe ist nur solange möglich, bis es zum Sex kommt. Mit dem Sex wird die Beziehung fleischlich und ordinär. Das Paradoxe in der Beziehung zu Charlotte ist, dass er sich selbst ihr nicht zumuten möchte, gerade weil er sie mag. Charlotte, die ja in sehr körperlichen Verhältnissen gelebt hat, ist es vielleicht sogar ganz willkommen, dass Kilian ihr in der Hinsicht keine Avancen macht. Aber auf Dauer ist das für sie kein Modell. Das ist auch in etwa die Grundstruktur des Romans: Dass jedem etwas fehlt, das er beim Anderen zu finden hofft, aber er kriegt halt den ganzen Sack Probleme, die mit der jeweiligen Lebensweise verbunden sind, mit dazu. Ich glaube aber nicht, dass zur Zeit die Liebe vom Sex gestört wird. Es gibt nur zurzeit viele Menschen, die kein geklärtes Verhältnis zu sich selbst haben und dann solchen Sex suchen, den man im Internet finden kann. Das ist bei Kilian ja ganz offensichtlich: Er ist ein monologischer Wichser. Eigentlich kann er nur mit sich selbst sprechen, obwohl er sich gern verständlich machen möchte. Ein letzter Satz noch zu dem Thema: Charlotte lebt ja in latenter Prostitution mit ihrem Freund Steve. Sie ist zwar nicht die arme Dirne, die es nicht anders haben könnte, aber es ist schon so, dass sie in Verhältnissen lebt, wo Sexualität anders ausgelebt wird und Steve und seine Freunde mit Kamerahandys zu Schaumpartys nach Mecklenburg-Vorpommern fahren. Und da stellt sich in der Tat die Frage, inwiefern Charlotte nicht bestimmte Dienste erbringt. Ist „Tauchertage“ auch ein Klassenroman? Ja, natürlich. Dafür bin ich zu sehr an Bourdieu geschult, um einfach davon ausgehen zu wollen, dass jeder Mensch von einer noch so entwickelten Gesellschaft in alle Richtungen offen gehalten wird. Das bedeutet aber nicht, dass der Einzelne das nicht überwinden kann. Bestimmte Austauschprozesse sind immer im System angelegt. Also sind Klassen kein Unglück? Nehmen wir die Else-Figur aus dem Roman. Else kann ja durchaus gut damit leben, was er ist. Soll man jeden am sozialdemokratischen Ideal des hochgearbeiteten Akademikers messen? Ist es immer ein Glück, in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein, oder ist nicht vielleicht an den Rändern viel mehr Kongruenz möglich? Sowohl oben als auch unten. Der Roman ist keine Anklageschrift gegen die herrschenden Verhältnisse. Das Schöne in Deutschland ist doch, dass die Grenzbereiche zumindest partiell durchlässig sind. Mit tausend Euro im Monat kann jeder in Deutschland ein relativ weitgefächertes Leben führen. Das Buch Tauchertage kostet 18 Euro.

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