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"Man kann nicht erwarten, dass sie sich an die Regeln halten."

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Auf den Bildern der Ausschreitungen in Großbritannien sieht man eingeschlagene Scheiben und Jugendliche, die Elektrogeräte und andere Waren aus den Läden tragen. Dieses Phänomen der Plünderung in Ausnahmezuständen ist bekannt, nicht zuletzt seit den vielen Fällen nach dem Hurricane "Katrina" 2005. Aber ist es rein kriminell oder doch moralisch zu rechtfertigen, wenn sich die sozial Benachteiligten an dem Eigentum anderer vergehen? Und wie verhält sich das im speziellen Fall der Unruhen in England? Darüber haben wir mit Robin Celikates, Associate Professor für Politische und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam, gesprochen.

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Illustration: Julia Schubert



jetzt.de: Was ist definitorisch der Unterschied zwischen Plünderung und Diebstahl?
Celikates: Unterschiede sind die Größenordnung und der Kontext. Von Plünderung spricht man ja erst in Situationen allgemeiner Ordnungslosigkeit. Das Stehlen hingegen ist ein individueller Akt. Der wichtigste Unterschied ist aber, dass das Stehlen meist keinerlei politische Signifikanz hat, Plünderungen hingegen oft auch eine politische Dimension haben.

Es gab Stimmen, die behaupteten, die Randalierer wollten keine Freiheit, sondern Flachbildfernseher. Sehen sie eine politische Motivation in den Ausschreitungen?
Die politische Klasse, allen voran Premierminister Cameron, und die Medien waren sehr schnell damit, die Krawalle als reine Kriminalität zu bezeichnen. Das halte ich für sehr gefährlich, da es die Probleme verschärfen wird und den Kontext ausblendet. Man kann nicht so einfach sagen, die randalierenden Jugendlichen interessierten sich nicht für Politik und Demokratie.

Aber in den sehr unkoordiniert verlaufenden Ausschreitungen ist doch keinerlei politisches Programm erkennbar.
Natürlich muss man ebenso aufpassen, dass man die Situation nicht politisch überfrachtet oder romantisiert. Offensichtlich sind die Ausschreitungen unkoordiniert und es gibt kaum politische Forderungen der Akteure. Trotzdem kann diese Art von Protest politische Dimensionen haben, wenn man sich überlegt, was die Situation ist, auf die damit reagiert wird, und welche Alternativen die Akteure haben.

Greifen die Jugendlichen also zu Gewalt und zu Plünderungen, weil sie keine andere Möglichkeit der politischen Artikulation haben?
Dass sie keine anderen Möglichkeiten haben, würde ich nicht sagen, es gäbe sicher andere Wege, sich politisch zu artikulieren. Aber in der betroffenen sozialen Klasse gewinnen die Jugendlichen eben schnell den Eindruck, von der Gesellschaft ignoriert und aus ihr ausgeschlossen zu werden und mit den Krawallen erreichen sie ja immerhin, dass sich die Politiker und die Medien in die Viertel begeben, die sie seit Jahren außer Acht gelassen haben.

Kann man die Plünderungen als Akt des zivilen Ungehorsams verstehen?
Es gibt da sicherlich Berührungspunkte, denn sowohl in Fällen des zivilen Ungehorsams als auch bei den aktuellen Ereignissen in England muss man zurückweisen, dass es sich um bloße kriminelle Akte handelt. Eine solche Kriminalisierung von Protest ist sozial nicht hilfreich und politisch gefährlich. Allerdings gibt es auch Unterschiede, denn der zivile Ungehorsam ist immer prinzipienbasiert und explizit von einer moralisch-politischen Motivation getragen.

Selbst wenn die Plünderungen nicht unter die Definition des zivilen Ungehorsams fallen – sind sie trotzdem moralisch zu rechtfertigen?
Um das zu beurteilen, muss man zunächst die Frage stellen, ob alle Mitglieder einer Gesellschaft die gleichen Pflichten haben, den geltenden Gesetzen zu gehorchen. In durch massive soziale Ungerechtigkeit, also sozialen und symbolischen, zum Teil auch rassistischen Ausschluss geprägten Gesellschaften, haben Angehörige der benachteiligten Gruppen keinen Grund, sich als vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft zu begreifen – und damit kann man von ihnen auch nicht erwarten, dass sie sich in gleicher Weise an die Regeln halten. Dadurch ist man nicht von allen Normen dispensiert und es ist sicherlich nicht gerechtfertigt, Häuser anzuzünden, in denen sich Menschen befinden.

Aber zur Achtung des persönlichen Eigentums sind diese Gruppen nicht mehr verpflichtet?
Die Achtung des persönlichen Eigentums wird in kapitalistischen Gesellschaften zum Teil fetischisiert und auf eine Stufe mit der Achtung von Menschenleben gestellt, obwohl der Schutz des Eigentums eigentlich normativ weniger gewichtig ist. Die Plünderungen durch die sozial Benachteiligten können insofern moralisch gerechtfertigt sein, als sie eine Art Protest gegen die unfaire strukturelle Ungleichverteilung des sozialen Reichtums darstellen.

Ist es also moralischer, eine große Elektromarktkette zu plündern als den kleinen Gemüseladen an der Ecke?
Natürlich ist es moralisch und strategisch sinnvoll, nicht den Mitbürgern zu schaden, die ebenso wenig privilegiert sind wie man selbst, so gesehen sind viele Plünderungsaktionen dieser Tage in England sehr unreflektiert. Einen großen Elektromarkt zu plündern scheint hingegen moralisch und strategisch nicht gleichermaßen problematisch und kann auch als Art der Umverteilung verstanden werden.

Plünderungen werden als Vergehen gegen die öffentliche Ordnung verstanden und streng geahndet, im Falle New Orleans beispielsweise sogar mit dem Schießbefehl. Wie ist dieses harte Vorgehen zu erklären?
Die öffentliche Ordnung ist ein sehr schwammiger Begriff, der auch repressiv eingesetzt werden kann, vor allem, weil manche sozialen Gruppen besser darin sind, zu definieren, was er bedeutet und das auch durchzusetzen. Die Wahrung dieser öffentlichen Ordnung rechtfertigt dann sehr schnell die Ausweitung polizeilicher Eingriffe. Das ist auch, was die aktuelle Lage in Großbritannien, die Ausschreitungen in den Pariser Banlieues und die Plünderungen nach „Katrina" verbindet: Auf ein soziales und politisches Problem wird mit einer polizeilichen oder sogar militärischen Logik reagiert, so als sei das politische System durch die Geschehnisse bereits gelähmt worden. Eine solche Reaktion ist nicht adäquat und zeigt den Protagonisten der Randale nur, dass die Gesellschaft nicht weiß, wie sie mit ihnen umgehen soll.

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