Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Medien gegen Einsamkeit: bewusstes Unglück oder bewusstlose Zufriedenheit?

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Herr Kuhlmann. Was bedeutet es, einsam zu sein? Zunächst ist es wichtig, Isolation und Einsamkeit zu unterscheiden. Während Isolation die faktische Nichteinbindung in ein Kollektiv meint, unter der man nicht unbedingt leiden muss, kommt bei der Einsamkeit der Leidensdruck hinzu. Einsamkeit ist insofern negativ bewertete Isolation.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Fördert Mediennutzung die Einsamkeit der Menschen? Es lassen sich verschiedene Zusammenhänge vermuten: Erstens, intensive Mediennutzung fördert Einsamkeit: Wer ständig vor dem Fernseher sitzt, kann nicht gleichzeitig Sozialkontakte pflegen. Zweitens, Mediennutzung vertreibt Einsamkeit: Per Telefon, Chat oder Onlinespielen können alte Kontakte gepflegt, vor allem aber neue geknüpft werden. Drittens, Mediennutzung betäubt Einsamkeit: Wer seine Abende allein vor dem Fernseher verbringt, ist zwar vielleicht einsam, merkt es aber womöglich gar nicht mehr. Ein klassisches Massenmedium vertreibt also die Einsamkeit? Dahinter steckt ein großes Problem für die Forschung: Wenn Fernsehen oder auch Computerspiele als Betäubungsmittel gegen Einsamkeit wirken, dann fühlen sich die Vielseher nicht mehr einsam und werden deshalb auch keine Einsamkeit berichten können. Im Gegenteil könnte es sogar passieren, dass sich die objektiv weniger Einsamen für einsamer halten, weil sie das Betäubungsmittel eben nicht genommen haben. Zugespitzt ließe sich zur Verteidigung der Massenmedien dann fragen, ob ein Einsamer, der sich nicht einsam fühlt, überhaupt einsam genannt werden kann? Ist das nicht ein wenig paradox? Wenn moderne Gesellschaften notwendig Einsamkeit produzieren, müssen wir dann nicht für hilfreiche Drogen dankbar sein? Letztlich läuft diese Überlegung dann auf die Alternative bewusstes Unglück oder bewusstlose Zufriedenheit hinaus. Zufriedenheit sollte man aber in Anführungszeichen setzen, weil die Vertreibung von Einsamkeit durch stundenlanges Zappen durch ein Fernsehprogramm, das auch noch meist als miserabel erlebt wird, wohl kaum als Glückszustand erlebt wird. Sie haben in einer Studie die Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und Mediennutzung untersucht – zu welchem Ergebnis sind Sie dabei gekommen? Was den Nutzungsumfang verschiedener Medien betrifft, finden sich nur beim Telefon starke Zusammenhänge: Einsame Menschen telefonieren häufiger und länger. Fernsehnutzung hängt nur mit ökonomischer Einsamkeit, also Arbeitslosigkeit positiv zusammen. Schließlich hören emotional/sexuell Einsame, sprich: unglückliche Singles, beim Autofahren und beim Essen häufiger Musik. Woran kann das liegen? Eine andere Studie hat gezeigt, dass Singles gerade das Allein-Essen als besonders einsam empfinden und dort mediale Begleitkulissen suchen. Insgesamt scheint obige Annahme zu stimmen: Man findet die plausiblen Zusammenhänge zwischen Vielsehen und Einsamkeit wahrscheinlich deshalb nicht, weil die Vielseher ihre Einsamkeit nicht mehr bemerken. Konsumieren einsame Menschen auch andere Inhalte als sozial besser Vernetzte? Dass unglückliche Singles sich besonders für Kontaktanzeigen interessieren, ist wohl trivial. Was Fernsehgenres angeht, so hängt vor allem kognitive Einsamkeit mit vielen Genres zusammen, am stärksten mit Liebesfilmen. Über die Ursache kann ich nur spekulieren: Vielleicht erlebt der sich unverstanden Fühlende hier die Utopie des Einander-Verstehen. Interessant ist auch, dass sowohl kognitive als auch emotional/sexuelle sowie kulturelle Einsamkeit positiv mit dem Konsum von Horrorfilmen zusammenhängen. Da im Horrorfilm das Grauen ja meist zuschlägt, wenn sich das Opfer gerade von der Gruppe entfernt hat, also "einsam" ist, erlebt der Zuschauer hier womöglich, dass es ja noch viel schlimmere Formen von Einsamkeit gibt. Aber auch das muss vorerst Spekulation bleiben. Wie erfahren intensive Mediennutzer das Gefühl, temporär keinen Zugang zu Medien zu haben? Stellt sich dann schneller ein Gefühl der Einsamkeit ein? Das ist sicher so, allerdings schwer zu erforschen, da solche Situationen in modernen Gesellschaften kaum noch vorkommen. Denkbar sind aber Situationen etwa nach einem Umzug, wenn der Fernsehanschluss noch nicht frei geschaltet ist, in denen man plötzlich merken kann, wie viel Leere an „normalen“ Abenden vom Fernseher übertüncht wird. Auffällig ist, dass der durchschnittliche Deutsche über 3,5 Stunden täglich vor dem Fernseher verbringt, aber gleichzeitig meist über das Programm schimpft. So zappen wir dann durch die 30 Kanäle, stellen 30 mal fest, dass nichts Interessantes läuft, beschließen dann aber nicht, dass dieses Medium nichts taugt, sondern fangen bei Kanal 1 wieder an. Eine solche massive Verschwendung von Lebenszeit lässt sich nur erklären, wenn dieses Verhalten eine zentrale Funktion erfüllt. Und meine Untersuchungen zeigen, dass das „Totschlagen“ von Zeit und die Vertreibung von Einsamkeit mit die stärksten Motive für massiven Fernsehkonsum sind. Zum Thema "Einsamkeit" gibt es einen aktuellen Schwerpunkt auf jetzt.de: Dazu sind bereits erschienen: - Ein Text aus der Rubrik Meine Theorie: Einsamkeit sucks. - Eine Handreichung: Wie man stilsicher alleine auf Konzerte, ins Kino oder Theater geht - Ein Interview mit dem CDU-Politiker Sven-Joachim Otto über Einsamkeit in der Politik. - Die Liste der 50 besten Songs "ohne die doofen Anderen"

  • teilen
  • schließen