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Oh Gott, ich bin 30! Und was hab' ich erreicht?

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Marko Doringer ist Filmemacher aus Österreich und lebt in Berlin. Kurz nach seinem 30. Geburtstag schlittert er in eine Lebenskrise. Plötzlich stellt er fest: Ich habe nichts erreicht, habe keine Ausbildung, kaum Geld. An diesem Punkt beginnt auch der autobiografische Film "Mein halbes Leben". Um seinen Ängsten auf den Grund zu gehen, fährt Marko in seine Heimat nach Österreich und besucht alte Freunde. Er trifft Katha, eine begabte Mode-Designerin, die aber auf keinen Fall ein Kind haben möchte, bevor es ihr finanziell besser geht. Der viel begabte Tom spielt nicht mehr in einer Hardcore-Band, sondern verbringt die Woche über in Bulgarien und opfert sein Leben seiner Arbeit. Martin, ein Sportjournalist mit gutem Einkommen und Freundin, träumt unterdessen vom selbstbestimmten Leben. Ein Gespräch mit Marko Doringer über das magische Alter 30. jetzt.de: Marko, in deinem Film geht es um einen 30-Jährigen, der aufwacht und sagt „Ich habe in meinem Leben nichts erreicht.“ 30 ist erstmal nichts anderes als eine Zahl, genauso wie 23, 38 oder 34. Warum messen trotzdem so viele Menschen diesem Alter soviel bei? Warum nicht 40? Marko: 30 ist eine gesellschaftlich definierte Marke. Die Zahl übt weniger einen biologischen, dafür aber einen sozialen Druck aus. Mit 30 hat man nicht mehr diese Narrenfreiheit, wie man sie mit 20 hatte. Eine gewisse Seriösität tritt ins Leben. Das hat viel mit unseren Eltern zu tun, mit denen wir uns als ihre Kinder immer vergleichen, ob wir das wollen oder nicht. Und unsere Eltern hatten mit 30 meistens schon ein Haus gebaut und eine Familie gegründet. Auch wenn diese Werte oberflächlich für uns nicht mehr zählen – sie stecken in uns drinnen und wir messen uns an ihnen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Marko in einer Filmszene mit seinen Eltern. Mittlerweile kann ein 40-Jähriger noch ohne Probleme das Leben eines 20-Jährigen führen. Eigentlich erweitert sich unsere Jugend ja ständig. Diese „ewige Jugend“ wird so oft von allen Medien postuliert, dass man irgendwann daran glaubt. Ich würde aber eher sagen, dass sich das „Erwachsensein“ selbst verändert hat: Es ist lockerer, vielleicht auch ungeplanter und kindischer, aber genau das ist eben die heutige Form des Erwachsenseins, und die ist anders, als was unsere Eltern darunter verstehen. Klar sind wir in deren Augen nicht erwachsen. Du warst 33, als du den Film gedreht hast. Wie ging es dir, als du 30 geworden bist? An meinem 30. Geburtstag ging es mir noch ganz gut, ich habe gefeiert. Aber ein paar Wochen später kam die Depression. Ich habe mir Fragen gestellt wie: Was habe ich eigentlich erreicht? Was will ich in meinem Leben? Die Krise hat mehrere Wochen gedauert. Dann im Frühjahr 2006 habe ich mit den Dreharbeiten begonnen. Ich dachte mir, dass es doch mehreren Menschen aus meiner Generation so gehen muss. Weil das Thema des Films für mich ein sehr persönliches war, habe ich mich entschlossen, einen autobiografischen Film zu machen – der gleichzeitig einen unterhaltsamen, ironischen Charakter hat. Es geht nicht um Hunger- oder Umweltkatastrophen, sondern um ein Problem der westlichen Mittelschicht. Du zeichnest sehr einfühlsame, fast schon intime Porträts von deinen Freunden und Familienangehörigen. War das schwierig? Das kann man nicht pauschal beantworten. Manche sind aufgeschlossen, manche zieren sich. Aber alle hatten ein Mitspracherecht. Jeder konnte den Film vorher abnehmen und sagen, ob er damit einverstanden ist. Aber es ist nie leicht, Protagonist in einem Dokumentarfilm zu sein. Man kehrt schließlich sein Innerstes nach außen. Für mich selbst ist es natürlich auch schwierig – ich bin ja selbst auch Protagonist in diesem Film. Aber das muss so sein. Ich bin ein kleiner Menschenhändler, ich baue aus Lebensgeschichten einen Film, der mein Publikum ansprechen soll. Da sind die Konfliktpunkte besonders interessant und wichtig. Bei allen Geschichten spielt der berufliche Erfolg eine sehr große Rolle. Messen wir unserer Karriere zuviel Bedeutung bei? Wir haben heute viel mehr Möglichkeiten, uns selbst zu verwirklichen. Aber unsere heutige Selbstverwirklichung ist sehr stark am Beruf orientiert. Zum Beispiel hatte meine Krise mit 30 ihre Ursachen vor allem in meinem beruflichen Misserfolg. So wie Katha im Film sagt: `Wir sind die Generation der Egoisten´. Im Film Fightclub sagt Tyler Durden: „Wir wurden durch das Fernsehen aufgezogen in dem Glauben, dass wir alle irgendwann mal Millionäre werden, Filmgötter, Rockstars. Werden wir aber nicht. Und das wird uns langsam klar. Und wir sind kurz, ganz kurz vorm Ausrasten.“ In „Mein halbes Leben“ drückt dein ehemaliger Mitbewohner seine Unzufriedenheit kulanter aus. Er sagt: „Ich leide unter einer faulen Form von Größenwahn.“ Ist Älterwerden desillusionierend? Es ist eine Ernüchterung. Auch ich wuchs in dem Glauben auf, dass mir alle Türen offen stehen, ich alles erreichen kann. Im Vergleich zu anderen Generationen ist es ja tatsächlich so! Mit 20 denkt man noch: Die Welt liegt mir zu Füßen. Mit 30 schaut man in den Spiegel und sieht, wie einem die Haare ausfallen. Und nichts weiter passiert. Übrigens verstärken Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ solche Illusionen. Sie suggerieren: Jeder kann ein Star werden – und das schon mit 16 oder 18. Für Frauen scheint ja noch ein zusätzlicher Druck hinzuzukommen: Man erwartet von ihnen, Mütter zu werden. In Österreich ist dieses klassische Rollenmodell noch stärker ausgeprägt. Hinzu kommt, dass auch noch die biologische Uhr zu ticken beginnt. Trotzdem gibt es auch für Männer Druck; keinen biologischen, aber einen psychologischen. Früher war der Mann nur Erzeuger, jetzt ist er auch teilhabender Vater. Wenn ich mit 50 mein erstes Kind bekomme, was habe ich noch davon?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Eine Filmszene mit Katha. Zögern wir zuviel? Je mehr Möglichkeiten man hat, desto schwerer fällt die Entscheidung. Schließlich muss man mit einer Entscheidung auf so viele andere Möglichkeiten verzichten. Im Film ist Tom der Entscheider: Früher hat er in einer Band gespielt, war Fußballprofi und hatte ein aufregendes Sozialleben. Er aber hat sich für den Beruf entschieden und damit für den Verzicht auf all das. Jetzt ist er die Woche über in Bulgarien und macht nichts anderes als arbeiten, essen und schlafen. Martin ist das Gegenteil von ihm: Er will sich alles offenhalten und hat Angst davor, eine Entscheidung zu treffen. Leistung ist ein relativer Begriff. Im Film sprechen die Menschen aber trotzdem viel von konventionellen Werten wie Geld, Erfolg, ein eigenes Haus. Warum sind sie in so vielen Köpfen so präsent? Einerseits sind die Existenzängste schlicht berechtigt. Wenn ich kein Einkommen habe, muss ich mir Gedanken machen, wie ich meine Miete bezahle. Andererseits ist es das Wertemuster unserer Eltern, das wir aus uns nicht herauskriegen. Die jüngere Generation, die heute zwischen 15 und 20 sind, geht damit schon ganz anders um. Ich glaube, sie tun sich im Heute leichter. Letztlich muss man aber doch sagen: Es geht uns hier allen ziemlich gut. Jammern wir nicht auf hohem Niveau? Natürlich ist es richtig, dass die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung ganz andere Sorgen plagen. Trotzdem darf ich meine Ängste ernst nehmen. Wir können und sollten sie in Relation setzen, aber dadurch verschwinden sie nicht einfach. Gibt es eine Quintessenz des Films? Das ist eine schwierige Frage. Ich persönlich breche im Film auf, um mir ein neues Leben zu suchen. Am Ende der Dreharbeiten entdecke ich: Die Unsicherheit, die mich so plagt, brauche ich. Genau sie macht mein Leben glücklich und spannend. Führe ich ein sicheres Leben, habe ich weniger Existenzängste, aber auch weniger Überraschungen. Seit Januar läuft Mein halbes Leben in Österreich in den Kinos. Der Film ist Gewinner der "Großen Diagonale 2008" und erhielt ausgezeichnete Kritiken. Voraussichtlich wird er im September auch in Deutschland zu sehen sein.

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