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"Okay, dachte ich: Ich setze mich jetzt neben ihn"

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Hannes Endler, 23, studiert im 5. Semester Elektroinformationstechnik an der Fachhochschule Kempten. Seit Studienbeginn im Jahr 2007 hilft Hannes dem Gehörlosen Michael Durach, 28, beim Studieren. Vom Deutschen Studentenwerk hat der Allgäuer dafür jüngst sogar einen Preis bekommen. jetzt.de: Hannes, kanntest du Michael vor dem Studium? Hannes: Nein, überhaupt nicht. Wie kommt es, dass du ihm hilfst? Ein Professor hat uns in der ersten Vorlesungsstunde erklärt, wie das Studium abläuft und er hat uns Michael vorgestellt. Er sagte: "Wir haben einen Gehörlosen im Studiengang. Ich hoffe, dass ihr euch tatkräftig um ihn kümmert." Er hat damals aber nicht konkret gefragt, wer ihm helfen würde. Hast du dich angeboten? Am zweiten Tag in der Frühe saß er alleine im Vorlesungssaal in der ersten Bank. Okay, dachte ich: Ich kenne hier eh keinen, ich setze mich jetzt neben ihn. Mich hat interessiert, wie er es an die FH geschafft hat. Wie war der erste Kontakt? Ich habe versucht, „Hallo“ und meinen Namen zu sagen und zu improvisieren. Warst du unsicher? Ja, aber das hat sich schnell gelegt. Man kommt ins Gespräch. Wie? Anfangs haben wir jedes Wort aufgeschrieben. Nach und nach kriegt man dann raus, welche Wörter man weglassen kann, um sich trotzdem zu verstehen. Kann Michael Lippen lesen? Ja, aber nur sehr schlecht. Es hängt vom Sprecher ab. Wenn Dialekt dabei ist, ist es schwieriger. (Hannes lacht. Man hört ihm an, dass er aus dem Allgäu kommt.) Aber er hat sich ein bisschen auf mich eingelernt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wie hilfst du ihm genau? Wenn er zum Beispiel in Physik Formeln von der Tafel abschreibt, versuche ich ihm Kommentare zu den Formeln zu geben. Zeitweise sitzt ja auch eine Gebärdendolmetscherin da, die für Michael übersetzt. Aber gleichzeitig abschreiben und den Gebärden zuschauen geht nicht. Wer hört und sieht, hat zwei Informationsquellen, der kann abschreiben und zuhören zugleich. Du bist also sowas wie Michaels zweite Informationsquelle. Ja. Ich gebe ihm entweder gleich Notizen oder im Nachhinein. Meist gehe ich die Sachen nach der Vorlesung durch und kann es ihm am Tag danach erzählen. Was heißt für dich „Erzählen“? Es ist eine Kombination. Man hat ein Blatt Papier vor sich und schreibt Stichworte auf. Ein paar Gebärden dazu kann man improvisieren. Ein bisschen kann Michael auch von den Lippen ablesen. Erzählen bedeutet also eine Mischung aus Schrift, Gebärde und Sprache. Ist Mathe zum Beispiel schwieriger zu erklären als andere Fächer? Eher einfacher. Die Formeln sind selbsterklärend, da erkennt man schon, was sich von der ersten auf die zweite Zeile geändert hat. Wenn Michael aber fragend schaut, weiß ich: Ich muss doch nochmal erklären, wie man von der ersten auf die zweite Zeile kommt. Wie lange arbeitest du an einem normalen Vorlesungstag mit Michael? In der Vorlesung jede Stunde, dann kommen noch die Übungen und die Erklärungsstunden mit dazu ... es ist schwer einzuschätzen. Strengt das an? Klar strengt das an. Nun ist er durch einige Prüfungen durchgefallen - und ich fühle mich verantwortlich dafür. Das ist schon eine Belastung. Und jetzt, wo unsere Zusammenarbeit so gelobt wird, ist der Druck noch größer. Studiert ihr beide auf Bachelor? Zum Glück sind wir noch die Letzten, die auf Diplom studieren. Da ist der Zeitplan nicht so straff und wir haben mehr Zeit zum wiederholen des Stoffs. Zudem hat Michael auf diese Weise eine zweite Chance: Er könnte, wenn es mit dem Diplom nichts wird, nochmal im Bachelor anfangen. Woher kommt Michaels Gehörlosigkeit? Er hatte mit zweieinhalb eine Meningitis. Wie reagieren deine Kommilitionen auf dein Engagement? Viele haben Respekt davor. Viele denken vielleicht auch: Gut, wenn es einer macht, dann brauche ich mich nicht darum kümmern. Manche sagen auch: Die Zeit, die man da investiert könnte man für sich selbst besser nutzen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Bericht über Hannes (im Hintergrund) und Michael aus einer Allgäuer Lokalzeitung. Was ist Michael für dich? Ein Freund? Er ist wie ein Kumpel, um den man sich kümmern will. Ist das nicht ein komisches Gefühl: Der Moment, in dem du dich zu ihm gesetzt hast, hat dein Leben verändert. Schon. Aber ich hab das nicht so vorgehabt. Was hast du in den vergangenen drei Jahren gelernt? Man braucht sehr viel Geduld, wenn man Menschen wie Michael hilft. Und wenn man sich einsetzt, bekommt man auch etwas retour. Das Wiederholen bringt mir ja was. Gute Noten? Nicht unbedingt. Ich liege eher im Mittelfeld. Warst du vorher schon sozial engagiert? Im Schießsport war ich in den letzten vier Jahren Jugendleiter und bin momentan Sportleiter. Es gibt also andere, die sich mehr engagieren. Bekommst du Geld für deine Hilfe? Ich will nix dafür. Wenn man einem Freund hilft, bekommt man ja auch kein Geld. Stand eine Bezahlung je zur Debatte? Ja. Die Hochschule hat mir einen Hiwivertrag angeboten mit neun Euro je Stunde. Du hast abgelehnt? Im zweiten Semester habe ich das Geld beantragt, dann aber abgesagt. Das ist nicht meins. Würde das Geld euer Verhältnis ändern? Das wäre ein anderes Gefühl. Ich kann mit dem Gedanken nicht umgehen. Die Frage kommt spät, aber: Kannst du ein bisschen Gebärdensprache? Wenig. Es muss auch nicht sein, weil die Dolmetschetscherin die komplizierten Vorlesungen gebärdet. Michael hängt noch mit Prüfungen fest, die du bestanden hast. Geht euer Weg nun auseinander? Eine Kommilitonin hilft ihm jetzt zusätzlich. Aber ich treffe ihn auch jeden Tag. Heute früh haben wir uns zwei Stunden vor der Vorlesung getroffen und ein paar Aufgaben gerechnet. Ist es leicht, Helfer zu finden? Von sich aus macht es keiner. Aber wenn ich nachfrage, ist die Bereitschaft da, zu helfen. Wenn ich Praxissemester habe, versuche ich, andere mit reinzuziehen, die Michael helfen. Er soll nicht so abhängig von mir sein. Was ist aus deiner Sicht Michaels größtes Problem im Alltag? Es gibt keine Kommunikation zwischen Hörenden und Gehörlosen. Beide Seiten nehmen keinen Kontakt auf. Mit welcher Folge? Das verfrachtet die Gehörlosen in eine eigene Welt. Manche Professoren sprechen über mich zum Michael hin, statt dass sie es selbst probieren, mit ihm zu reden. Das ist teilweise schlimm. Michael fragt mich nach vielen Vorlesungen, üb der Professor etwas Schlechtes über ihn gesagt habe? Oder wenn wir in einer Gruppe zusammenstehen und dann lächelt einer und schaut Michael an – dann hat er Angst, dass was Schlechtes über ihn erzählt wurde. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Er wird meistens bewundert. *** Mehr zum Thema: Unsere Autorin Franzi Schönenberger hat vor zwei Jahren für jetzt.de den BWL-Studenten Benjamin getroffen. Der damals 24-Jährige erzählt, wie es ist, als Gehörloser an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität zu studieren.

Text: peter-wagner - Fotos: manun/photocase.com; Zeitungsausschnitt

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