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Panikattacken: Wie Berliner Studenten die Reform ihres Studiums erleben

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Kolja, ihr habt Studenten der HU Berlin nach ihren Erfahrungen mit der Studienreform im Rahmen des Bologna-Prozess befragt. Unter anderem fragt ihr, wie die Studenten damit umgehen, dass die HU Zulassungsbeschränkungen für den Master eingeführt hat. Ich zitiere mal aus den Kommentaren der Studierenden: „Viel höherer Druck“ – „Große Konkurrenz verhindert Zusammenarbeit“ – „Panikattacken“ – „Im Gegensatz zu meinen ersten Studienerfahrungen in Hamburg keine Freude am Studium, da ständig Druck auf mich ausgeübt wird und meine Kräfte bereits vor dem Berufsleben ausgesaugt werden.“ Das sind sehr herbe Kommentare. Hast Du das erwartet? Wir wussten, dass es Probleme gibt. Von dem Ausmaß waren wir aber überrascht: Über 600 Kommentare gab es allein zu der Frage „Übergang zum Masterstudium“. Wer seid „ihr“? Eine kunterbunte Gruppe, Studierende aus verschiedenen Semestern und Fächern und Hintergründen, aus der studentischen Selbstverwaltung. Warum habt ihr diese Umfrage gemacht? Gab es dafür Geld? Nein! Das war ein rein ehrenamtliches Projekt, an dem zwischen zehn und 30 Leuten beteiligt waren. Im Jahr 2004 begann die HU den Bologna-Prozess umzusetzen – neue Abschlüsse, schnelleres Studium, diese ganzen Sachen. Von da an gab es immer wieder Probleme, die von der Unileitung aber als bedauerliche Einzelfälle abgetan wurden. Es waren aber keine Einzelfälle!

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Von welchen Problemen sprichst du? Von sehr vielen Kleinigkeiten. Es geht bei der Reform sehr viel um „Aktive Teilnahme“, die von den Dozenten bewertet werden soll. Vorbereitung, Nachbereitung, Hausaufgaben, die bewertet werden sollen. Die einen Studenten müssen das auch leisten, andere hingegen müssen nur Klausuren schreiben, die als "Aktive Teilnahme" gelten. Aber: Im Schnitt sind 60 Prozent der Studenten nebenher berufstätig. Mit den neuen "Studienverlaufsplänen", die nicht besonders flexibel sind, haben sie deshalb sehr viele Probleme. Viele können die Regelstudienzeit nicht mehr einhalten. Also habt ihr … ... wir wollten an dem Reformprozess endlich mitarbeiten und eine Datengrundlage schaffen: Wie ergeht es den Studenten? Bei der Reform des Studiums wurden bestimmte Aspekte einfach eins zu eins umgesetzt, andere nicht beachtet. Als es 2004 losging, wollte die Uni eine Vorreiterrolle übernehmen und hat sich so selbst unter enormen Zeitdruck gesetzt. Es ging alles zu schnell. Wann war die Umfrage? Im Sommersemester vergangenen Jahres haben wir gefragt – mit sechsseitigen Fragebögen. Und welchen Fragen? Wir wollten zum Beispiel die Vor- und Nachbereitungszeit zu den Kursen messen – dafür gibt es bei uns ja auch Studien-Punkte. Dann wollten wir eine Einschätzung zu Betreuung und Lehrqualität. Dann: Wie schätzt ihr euren Bachelor-Abschluss ein? Es ging auch um die Infrastruktur an der Uni, um die Vertrauensschutzregelung für auslaufende Studiengänge … Wie war der Rücklauf? Knapp zehn Prozent der HU-Studenten haben mitgemacht. Am Ende haben wir 2102 Bögen ausgewertet. Was sind die Ergebnisse? Diese Kleinarbeiten zur „Aktiven Teilnahme“ haben den Verwaltungs- und Arbeitsaufwand massiv gesteigert. Die Lehrer müssen die Teilnahmelisten durchgehen, die Arbeiten kontrollieren. Diesen Aufwand sollte man senken und die Kapazitäten in eine bessere Lehrbetreuung stecken. Wir fordern zum Beispiel auch, dass Studiengänge besser kombinierbar sein müssen. Durch die Zunahme von Teilnahmebeschränkungen hat sich das Problem der Kombinierbarkeit noch verschärft – das ist schon länger so, wurde aber noch problematischer. Was meinst Du genau? In Chemie absolvieren manche 38 Semesterwochenstunden – und kriegen ihr Zweitfach und die Arbeit nicht mehr unter. Es maneglt also an der Absprache zwischen den Fakultäten? Ja, alle Lehrenden haben eigene Maßstäbe. Und die Teilnahmebeschränkung ist ein Problem. Manche Dozenten fordern die Leute auf, unter sich auszumachen, wer den Raum verlässt. Andere schließen einfach die Tür. Die Lehrenden sind mit dieser Situation überfordert. Ein anderes Problem ist: Nur neun bis 15 Prozent der Leute möchten mit einem Bachelor-Abschluss in den Job. Die HU geht aber davon aus, dass viele in den Job gehen – und hat zu wenige Master-Plätze bereitgestellt. Also wissen die Leute gar nicht, ob sie für ihr Fach einen Masterplatz bekommen. Daher die harten Kommentare vom Beginn unseres Gesprächs. Ja. Wir forden jetzt, dass die Uni allen einen Platz zur Verfügung stellen. Das nimmt den Druck. Der muss auch von jenen genommen werden, die in auslaufenden Studiengängen stecken, also vielleicht auf Diplom studieren. Die genießen noch Vertrauensschutz während der Regelstudienzeit und zwei Semester darauf. Aber das reicht erfahrungsgemäß nicht. Nur 27 Prozent der Befragten glauben laut unserer Umfrage, innerhalb der Vertrauensschutzzeit fertig werden zu können. Das ist eine Art Zeitbombe! Die Uni spricht hinter vorgehaltener Hand schon von chaotischen Tendenzen – wir brauchen deshalb ein großzügiges Wechselangebot in die neuen Studiengänge. Eine Studie als Protestform – wie hat die Uni reagiert? Sie hat uns ein Gesprächsangebot unterbreitet. Wie werden kommende Woche reden, wie wir mit den Ergebnissen umgehen. Weil: Wenn es diese Reform gibt, möchten wir sie mitgestalten. Und dabei muss die soziale Realität anerkannt werden. Im Mittel sind 60 Prozent aller Studenten berufstätig, acht Prozent der Studis haben Kinder, vier Prozent pflegen Familienangehörige – solche Dinge müssen berücksichtigt werden. Kolja Fuchslocher ist alleinerziehender Vater von zwei Kindern und arbeitet in der studentischen Sozialberatung. Gerade schließt er sein Studium in Geschichte und Europäische Ethnologie ab.

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