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"Plötzlich fiel mir auf: Ich kann ja ein Leben haben!"

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Ulrike, du kommst aus einer Sportfamilie. Dein Großvater war als Technischer Delegierter bei den olympischen Winterspielen von Calgary, dein Vater hat einst die nordischen Kombinierer trainiert. Musstest du Sport machen? Ulrike Köhler: Schon, das war das Ding meiner Eltern, dass in unserer Familie Sport gemacht wird. Warum Judo? Meine Cousine Anne machte das und über einen Wochenendkurs bin ich reingekommen. Und dann ziemlich erfolgreich geworden. War es immer dein Wunsch, in den Nationalkader zu kommen? Ach nein, man rutscht so rein. Aber ich habe Blut geleckt als ich gemerkt habe, wie sich Erfolg anfühlt. Und dann beschlossen, den Weg weiter zu gehen. Was war dein erster landesweiter Erfolg? Moment, ich guck mal in meinen Judopass … 1996 war ich Dritte bei den Deutschen Meisterschaften. In der völlig bekloppten Gewichtsklasse von 48 Kilo. Warum bekloppt? Weil ich zwei bis drei Kilo abnehmen musste, um in die Klasse zu kommen. Mit 13! Und ich bin mit 1,78 Meter nicht eben klein. 2000 und 2001 warst du Junioreneuropameisterin. Warst du damals auf dem Weg zu den Olympischen Spielen? Wenn man sich international gut schlägt, kommt das Thema auf. In Peking waren Leute dabei, die ich damals geschlagen habe. Aber natürlich genauso viele, gegen die ich verloren habe. Kennst du die deutschen Starterinnen? Aber sicher. Annett Böhm wurde Fünfte in der Klasse bis 70 Kilogramm, Heide Wollert ist Siebte geworden – das waren Trainingspartnerinnen von mir.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Bild zeigt Heide Wollert bei den Olympischen Spielen in Peking im Kampf gegen die Französin Stephanie Possamai. Ulrike ist im Bild unten zu sehen. Warum hast du damals aufgehört? Es war Zeit für die Abiturprüfungen. Ich hatte immer viel gefehlt und mir dafür eine Auszeit vom Judo genommen. Und plötzlich fiel mir auf: Du lieber Himmel! Ich kann ja ein Leben haben, Freizeit, mit der ich mache, was ich will. Das war ein riesiges Aha-Erlebnis, so kurz vor dem 20. Geburtstag. Noch vorher hatte ich bis zu dreimal am Tag trainiert. Wenn du das ernsthaft machst, richtet sich ja dein Leben nach Judo. Anfang des Jahres bekommst du deinen Jahresplan und drei Viertel dieser 12 Monate sind fest verplant. Drumherum kannst du dann dein Leben bauen. Hast du die Spiele in Peking am Fernseher verfolgt? Du, ich hab keinen Fernseher, aber ich habe mich im Internet auf dem Laufenden gehalten. Theoretisch hätten es deine Spiele sein können. Das stimmt und ein bisschen denkt man schon darüber nach, wie es wäre. Aber inzwischen sehe ich mehr die Quälerei, die dahinter steht. Wäre ich dabei, würde mir jetzt alles weh tun. Gestern Abend war ich auf dem Geburtstag meines einstigen Trainers und habe ihn gefragt: Warum macht man das? Warum muss das sein? Vielleicht für einen möglichen Olympiasieg? Sicher, kurze Zeit bist du dann das Goldmädchen. Aber ich glaube danach verschwindet man schnell wieder in der Versenkung. Yvonne Bönisch gewann 2004 Gold im Judo. Kann sie von dem Sport leben? Nee, man kriegt Sporthilfe und vielleicht kann man aus den Kämpfen in der Bundesliga ein bisschen Geld ziehen. Mit Glück bekommt man einen Sponsor, das ist dann aber auch nicht Nike sondern vielleicht ein Bauunternehmen aus Brandenburg. Yvonne zum Beispiel studiert nebenbei. Das sind wohl die beiden typischen Wege: Die einen studieren, die anderen sind bei der Bundeswehr und dort in einer Sportfördergruppe. Die „Warum mach ich das“-Frage hast du dir früher aber nicht gestellt, oder? Natürlich nicht. Dass ich mich das heute frage, muss mit dem Abstand zu tun haben, den ich jetzt zum Sport habe. Mein Verständnis ist heute ein anderes: Sport mache ich ausschließlich zum Spaß. Ich reagiere heute empfindlich, wenn jemand einen Wettbewerb aus einem Sport machen will, den ich zum Spaß mache. Ich muss mir nichts mehr beweisen. In der Berichterstattung über Peking wurde immer wieder der Medaillenspiegel beschworen, um zu zeigen, wie Deutschland dasteht, … Ja, da gehe ich so auf die Palme, weil ich weiss, wie man sich schinden muss. Was meinst du damit? Wie manche Athleten nach ihrer Niederlage in der Öffentlichkeit angegangen werden. Wenn du dir 4 Jahre lang den Arsch aufgerissen hast, dann ärgerst du dich ganz von allein wenn Du verlierst. Da brauchst du nicht noch einen Moderator, der sich wundert und fragt: Wie, du hast kein Gold gewonnen?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auf der Matte, im Kampf: Ulrike, rechts im Bild. Spielst du auf Yvonne Bönisch an, die als „feste Goldkandidatin“ galt und dann ohne Medaille nach Hause ging? Zum Beispiel. Wie kann man schreiben, dass jemand „enttäuschender Neunter“ geworden ist, wenn man doch keine Ahnung hat, wie viel Arbeit dahinter steckte? Was bleibt eigentlich von Erfolgen wie dem Gewinn einer Europameisterschaft? Ein paar Medaillen, Pokale. Und breite Schultern natürlich. Wie ist es, wenn dich jemand kennenlernt – erzählst du gleich von deiner sportlichen Vergangenheit? Eher nicht. Es ist lustig, wenn jemand bei mir zuhause ist und irgendwann das Gespräch drauf kommt: Wie, Judo? Hast du da mehr gemacht? Warst du erfolgreich? Dann sage ich: Ach, ich war ganz gut. So geht es hin und her und wenn jemand weiter nachhakt, gehe ich irgendwann in mein Zimmer und hole diese alte Weinkiste mit den Medaillen drin. Die ist ziemlich schwer. Wie schwer? Moment, ich muss die mal schnell wiegen – Judoka haben ja immer eine Waage zur Hand. Dann sind deine Medaillen ein Weg, dich besser kennen zulernen, oder? Deine sportliche Vergangenheit. Schon. Wenn jemand vorher nichts über mich wusste und ich drücke ihm die Kiste in die Hand, ernte ich erstmal verständnislose Blicke. Was tust du heute? Ich studiere Geografie und schreibe gerade meine Diplomarbeit. Worüber? Über illegalen Goldabbau in Ghana. 2006 haben wir bei einer Exkursion ein Goldgräberlager besucht – das hat mich echt fasziniert. Wir sind da runter gestiegen, das war wie ein Fuchsbau … War Geografie dein Traumstudium? Ach was, ich wusste mit 19 doch nicht, was ich vom Leben will! Ich wusste nur, ich will die nächste EM gewinnen. Was hast du durch den Sport, das Judo gelernt? Selbstvertrauen. Und dass man, wenn man sich quält, haben kann, was man will. Dann sind dir nicht nur die Medaillen geblieben, oder? Natürlich nicht. Und, Moment: Ich hab’s. Was? Das Gewicht der Medaillen. Und? 5,3 Kilogramm.

Text: peter-wagner - Fotos: dpa, privat

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