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"Sie wollen nicht experimentieren"

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jetzt.de: Der Trendreport 2012 ist vor allem ein Appell an soziale Organisationen, die digitalen Medien so schnell wie möglich in ihre Arbeit einzubeziehen. Wieso dieser Aufruf?

Joana Breidenbach: Wenn wir uns andere Teile der Wirtschaft und Gesellschaft ansehen, sehen wir, dass digitale Medien die Welt massiv verändert haben. Das ist im sozialen Sektor noch nicht passiert. Du musst dir nur mal ansehen, wie zum Beispiel Hilfsorganisationen arbeiten. Die meisten Menschen wickeln heutzutage ihre Bankgeschäfte oder Geldtransaktionen online ab, aber nur acht Prozent der Spenden werden online gesammelt. Dabei hat gerade der soziale Sektor einen enormen Bedarf an den Entwicklungen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

An welche Entwicklungen denkst du da konkret?

Ich denke dabei an mehr Transparenz, oder an Kostensenkungen, weil keine aufwändigen analogen Werbemittel mehr gebraucht werden. Oder an eine schnellere und authentischere Berichterstattung. Weg von den Hochglanzseiten spendensammelnder Broschüren hin zu direktem Kontakt zwischen Menschen, die Hilfe benötigen, und Menschen, die Hilfe anbieten.

Woran liegt es, dass viele Organisationen diese Prinzipien noch nicht umgesetzt haben?

Hilforganisationen haben sehr häufig eine sehr starke Angst davor, Kontrolle abzugeben. In der Wirtschaft wird viel mit Social Media gearbeitet, die sind viel dialogorientierter und hören in die Zielgruppe rein. Das heißt auch, dass sie Kritik von außen zulassen oder auch mal Fehler eingestehen. Das ist etwas, was im sozialen Sektor noch überhaupt nicht weit verbreitet ist. Man ist viel risikoscheuer und nicht bereit zu experimentieren. Das liegt teilweise auch daran, dass viele der Entscheidungsträger nicht im digitalen Zeitalter groß geworden sind. Überspitzt gesagt habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich insgeheim in dem Glauben wähnen, dass dieses Internet nur ein vorübergehendes Phänomen ist.

Wirklich?

Naja, es ist auch nicht immer eine Altersfrage. Manche gehen allgemein kritischer mit dem Medium Internet um. Zudem fehlt der Wirtschaftsdruck: Wenn du als Unternehmen heute nicht mitmachst, hast du gleich alle deine Kunden verloren. Wenn Hilfsorganisationen dagegen nicht gleich mitgehen, merken sie nicht so schnell, dass sie den Zug gerade verpassen oder sogar verpasst haben.

Ist Deutschland da anderen Ländern hinterher?

Aus meiner Sicht ja. Wenn ich mit Stiftungen rede, mit Marketingabteilungen, mit Hilfsorganisationen, dann sind viele bahnbrechende Entwicklungen noch überhaupt nicht präsent. Zum Beispiel Ushahidi. Das ist eine Software aus Kenia, bei der Betroffene und humanitäre Organisationen aus aller Welt per SMS krisenbezogene Ereignisse berichten können. Diese Infos werden zentral verortet, validiert und dienen als Grundlagen für Interventionen. Ushahidi wurde zum Beispiel nach dem Erdbeben in Haiti oder der Flutkatastrophe in Pakistan intensiv genutzt. Wenn ich Usahidi in Deutschland vorstelle, kennt das niemand. Wenn ich aber auf Kongressen oder Workshops in den USA oder England nachfrage, gehen die Arme immer schnell nach oben. Viele digitale Innovationen sind in Deutschland also nicht nur weitgehend unbekannt, sondern auch ungenutzt. Dabei bieten sie ein enormes Potenzial.

Ein im Trendreport angesprochener Trend ist die Gamifizierung, also der Einsatz von kleinen Spielelementen, die User zum Mitmachen motivieren. Können sich soziale Organisationen sowas überaupt leisten?

Erstens ist das so, dass gerade die großen Hilfsorganisationen auch ein großes Marketingbudget haben. Wir denken immer, dass Organisationen, die Gutes tun, nur ganz wenig Geld haben. Das stimmt nicht immer. Wenn man sich nur ansieht, wie viel in Hochglanz-Postwurfsendungen mit Spendenaufrufen geht, denke ich, dass das Geld zum Beispiel wesentlich besser in Spieleprogrammierer investiert wäre. Spiele haben eine hohe Anziehungskraft und oft entstehen sehr ansprechende Inhalte, die eben spielerisch Aufmerksamkeit für Misstände schaffen, wie das Experiment "The Fun Theory" eindrucksvoll zeigt. Es stimmt, dass wir gewohnt sind, sehr aufwendige Spiele zu sehen. Das kostet auch viel Geld. Aber man muss sich nur die vielen kleinen Facebook-Spiele ansehen. Die sind teils viel kostengünstiger, einfach zu programmieren und auch sinnvoll.

Als weiteren Trend habt ihr den Kartismus identifiziert, also die Darstellung auf Karten. Was hat es damit auf sich?

Naja, durch die überwältigende Informationsfälle gewinnen Visualisierungsformen an Bedeutung, seien es Infografiken, Videos oder eben Karteninformationen. Eine der wirklich bleibenden und durchschlagenden Erfolge ist dieses Ushahidi. In Deutschland gibt es etwas ähnliches, die Wheelmap. Das ist eine Open Source    für alle, die eintragen wollen, welche Orte nicht für Rollstühle und Kinderwägen geeignet sind.

 

Die hat eine enorme Dynamik in Deutschland ausgelöst und ist sicher auch nicht nur ein

 

Und die Netzwerkorgas? Wie würden diese sich auf den Arbeitsalltag von Aktivisten auswirken?

Netzwerkorgas sind sehr, sehr spannend. Denn die Vorstellung, als Organisation nur auf das Talent und die Motivation der Menschen aus deiner unmittelbaren Umgebung angewiesen zu sein, ist eigentlich schwachsinnig. Du schließt damit 6,99 Millarden Menschen aus. Wenn man aber die Infastruktur schafft, über das Netz miteinander in Verbindung zu bleiben und zusammenzuarbeiten, dann bündelt man das Wissen und die Motivationen von Menschen aus der ganzen Welt. Da kann man ganz spannende strategische Allianzen eingehen zwischen Leuten, die sich sonst nicht von einer Vereinstruktur vereinnahmen lassen würden. Sie können sich online flexibler und punktueller engagieren.

 

Wird persönlicher Kontakt damit nicht überflüssig?

Nein. Ich halte es ein Stück weit für Unsinn, zu sagen, dass man sich dann gar nicht mehr persönlich kennen muss. Ich glaube, das muss man. Gerade um die Inhalte zwischen den Zeilen von schnell getippen E-Mails zu verstehen, den Humor und die Persönlichkeit dahinter. Dennoch sehe ich die Zusammenarbeit im Netz als eine Arbeitsform der Zukunft. Gerade für Hilfsorganisationen, die nicht so viel Geld ausgeben wollen.

 

Wie können gerade jüngere Aktivisten oder Graswurzelorganisationen von den Trends profitieren?

Zunächst einmal bedeutet eine gute Internetpräsenz eine genauso große Sichtbarkeit wie zum Beispiel das Deutsche Rote Kreuz hat. Auch das Onlinefundraising lässt sich schnell und effektiv umsetzen. Statistiken belegen, dass jüngere Zielgruppen - also die nächste Spendergeneration - online oder per SMS eher ins Spendegeschäft einsteigen und dort auch spendabler sind. Und klar, Transparenz und Partizipation ist auch für jede Organisation möglich. Ohne viel Kostenaufwand.

 

Abschlussfrage: Wie ist deine Zukunftsvision von sozialem Engagement? Verlagert sich das meiste ins Internet?

Vieleicht klingt das ein bisschen banal, aber ich denke wirklich, dass wir eine Situation schaffen müssen, in der sich mehr Menschen engagieren. Wir sind in Deutschland sehr staatsgäubig. Wir glauben, dass wenn etwas nicht funktioniert, der Staat das schon richten wird. Das wird in einer globalisierten Zukunft nicht mehr der Fall sein. Und niederschwellige Angebote, an der Gesellschaft teilzuhaben, sie mitzugestalten, senken den Druck vor den bestehenden politischen Institutionen. Die vielen digitalen Medien bieten, auch wenn man vielleicht nur eine Stunde in der Woche Zeit hat, einen Rahmen, der sehr ermächtigend ist für den Einzelnen und auch die gesamte Gesellschaft nach vorne bringen kann.

 

Joana Breidenbach ist promovierte Anthropologin und Mitgründerin von Deutschlands größter Spendenplattform betterplace.org.Zusammen mit Dennis Buchmann listet sie im Trendreport 2012 die erfolgreichsten Innovationen aus der Schnittstelle digital-sozial auf.

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