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„Skaten ist das Lockmittel“

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Wie kamen die Skateboards nach Afghanistan?
Eigentlich ging es erst nur ums Skaten. Unser Gründer Oliver Percovich skatet, seit er sechs Jahre alt ist. Im Februar 2007 ging er mit seiner damaligen Freundin nach Kabul, die dort einen Job hatte. Im Gepäck hatte er ein paar Skateboards, aber keinesfalls den Plan, ein Entwicklungshilfeprojekt aufzuziehen. Als er mit seinen Skateboards loszog hatte er sofort eine Traube Kinder um sich herum, und alle wollten skaten lernen. Die ersten waren quasi Naturtalente – und so dachte Oliver bald in größeren Dimensionen. Mittlerweile gibt es in Kabul eine eigene Skatehalle mit Unterrichtsräumen auf einer Fläche von fast 5.500 Quadratmetern. Und bei „Skateistan“ geht es nicht mehr nur um den Spaß am Fahren.

Sondern? Worum geht es dem Verein?
Auf dem Skateboard lernt man viel mehr, zum Beispiel Gemeinschaft, aber auch Führungsqualitäten. Ich selbst bin in Nordschottland, wo ich aufgewachsen bin, viel auf der Straße unterwegs gewesen. Und ich weiß, wie Skaten die Gesellschaft verändert. Da geht es nicht um Schichten, nicht um Arm oder Reich. Manche der Kinder und Jugendlichen in Afghanistan unterrichten mittlerweile andere, sie bringen ihnen das Skaten bei. Wir glauben, dass damit soziale Grenzen überwunden werden. Und wir wollen junge Menschen ausbilden, die die Welt verändern. Eine unserer Schülerinnen hat vor kurzem vor dem afghanischen Parlament gesprochen und die Wünsche und Ideen von jungen Afghanen dort vorgestellt. Das zeigt doch: Die Jugendlichen lernen bei uns Selbstvertrauen. Skaten ist ein tolles Mittel, sich auszudrücken – und das in einem Land, das seine Identität verloren hat.



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Wie war die Reaktion auf „Skateistan“ am Anfang – in einem Land, in dem Mädchen nicht einmal Fahrrad fahren dürfen?
Die Leute konnten mit Skateboards nichts anfangen. Das war total neu für sie. Vorbehalte gab es von den Einheimischen aber kaum. Schwierigkeiten hatten wir eher mit anderen Nichtregierungsorganisationen. Die nahmen uns am Anfang nicht so ganz ernst. „Was? Ihr wollt mit Skateboards die Welt verändern?“ machten sie sich über uns lustig. Mittlerweile sind wir aber anerkannt, das liegt nicht zuletzt an Auszeichnungen wie dem von Unicef gesponserten Beyond Sports Award. Den haben wir gerade erst in dieser Woche in Philadelphia bekommen. Da stehen Leute wie Tony Blair oder Desmond Tutu, aber auch Sportler wie Michael Johnson oder Bob Beamon Pate. 120 NGOs waren nominiert und wir sind unter den 30 Gewinnern. Außerdem hat uns ein Schweizer Magazin Anfang des Jahres auf Platz 86 der 100 wichtigsten NGOs weltweit gelistet hat. Weltweit – das ist doch unglaublich!

Wie sieht eure Arbeit in Afghanistan konkret aus?
Kurz gesagt: Eine Stunde Skaten, eine Stunde Unterricht. Das Skaten ist ein Lockmittel, um junge Menschen für Bildung zu interessieren. Fürs Skaten brauchst du keine Sprache. Und die Jugendlichen finden es einfach interessant. Im Unterricht geht es dann um Gesundheit und Hygiene, aber auch um Umweltschutz und Politik. Als ich selbst für eine Weile in Kabul war, habe ich politische Gespräche mit einem 12-Jährigen geführt. Wahnsinn! Manche von den Jugendlichen sprechen besser Deutsch als ich, obwohl ich in Berlin lebe. Mittlerweile hat sich zusätzlich das sogenannte Back-to-School-Programm entwickelt. Ein Jahr lang werden Straßenkinder, Flüchtlinge und Mädchen auf die Schule vorbereitet. Ziel ist, dass sie mit dem Unterrichtsstoff so weit kommen, dass sie sich wieder an einer öffentlichen Schule anmelden können. 103 Kinder haben das bisher geschafft, fast die Hälfte waren Mädchen.

Die sind in Afghanistan ja besonders benachteiligt, was Bildung angeht. Hatten die Eltern nichts dagegen, dass sie zu euch in die Skateschule kommen?
Wir sprechen mit den Eltern darüber und erklären ihnen, worum es uns geht. Außerdem werden Mädchen bei uns nur von Frauen unterrichtet und es gibt getrennte Räume für Mädchen und Jungs – auch zum Skaten. Insgesamt sind 40 Prozent unserer Schüler weiblich. Damit haben wir in Kabul die größte weibliche Skaterinnen-Community weltweit – größer auch als in den USA.

Und wie kommst du als promovierter Teilchenphysiker dazu, dich für’s Skaten in Afghanistan einzusetzen?
Beim Skaten lernt man einfach wahnsinnig viel. Und ja – ich habe einen Doktortitel in Physik. Das ist aber sehr abstrakt. Jetzt widme ich mich den fundamentalen Fragen der Gesellschaft.

Text: veronika-wawatschek - Fotos: Skateistan

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