Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Was muss ich über den Tatort wissen, Herr Werner?

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Vor unserem Gespräch sagten Sie, das sei einmal eine gute Gelegenheit, um mit den gängigen "Tatort"-Vorurteilen aufzuräumen. Welche wären das denn? Erst einmal gehen immer noch viele davon aus, dass der "Tatort" eine Fernsehserie ist. Das stimmt natürlich nicht, es handelt sich um eine Reihe, weil die einzelnen Filme ja nicht aufeinander aufbauen und an verschiedenen Tatorten spielen und immer andere Ermittler zeigen. Okay. "Derrick" dagegen ist eine Serie - spielt immer in München und hat immer den gleichen Ermittler. Der zweite große Irrtum betrifft die Zählweise. Das Erste feierte ja kürzlich die 700, das ist Unsinn - weil da 13 "Tatorte" unter den Tisch gekehrt werden, die in den 80er-Jahren vom ORF ausgestrahlt wurden, aber in Deutschland nicht erstgesendet wurden. Da weise ich schon gerne drauf hin, das sind ganz normale Filme der "Tatort"-Reihe mit ganz normalen Kommissaren, auch mit dem Vor- und Abspann. Das ist so ein Punkt, den möchte die ARD gar nicht hören. Wenn ich das irgendwo erwähne, gelte ich immer wieder als kleinkariert. Aber die sind nun mal da! Wie viele Leute gibt es denn, die sich in Deutschland so fanatisch mit dem "Tatort" beschäftigen? Ich bin kein Fanatiker. Viele solche Leute gibt es nicht. Wir beim tatort-fundus sind zu dritt, manchmal auch zu viert. Von anderen Leuten, die sich so intensiv damit beschäftigen, weiß ich nicht. Es gibt natürlich Leute, die sehr lange zuschauen, die sehr viel wissen. Mit denen fachzusimpeln, sich mit denen auszutauschen, ist toll. Aber so arg viele sind es nicht.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Francois Gibt es "Tatort"-Kommissare, die vorher richtige Fans waren? Weiß ich nicht. Es ist ja so, wenn ein Schauspieler zum "Tatort"-Hauptdarsteller geadelt wird, lässt er es meistens nicht vermissen, darüber Auskünfte zu geben, dass er ja früher schon immer "Tatort" schaute. Das machen etliche, aber da muss man ja manchmal auch ein bisschen was abziehen. Als richtiger Fan hat sich noch keiner geoutet. Manchmal ist sogar das Gegenteil der Fall: Ritchie Müller etwa teilte vor Antritt seiner Rolle als Kommissar in Stuttgart mit, dass er noch nie einen "Tatort" gesehen habe. Gut, gehen wir mal ans Grundwissen: Wer hat den "Tatort" erfunden? Gemeinhin gilt Gunther Witte als Erfinder des "Tatorts", der ehemalige Fernsehspielchef des WDR. 1969 wurde er von seinem Chef sozusagen an die Hand genommen. Dann machten sie einen dienstlichen Spaziergang im Kölner Stadtwald und berieten - weil sie dem ZDF-Erfolg "Der Kommissar" etwas entgegensetzen mussten. Witte orientierte sich dann an einem Radiohörspiel, das verschiedene Krimis in verschiedenen Städten erzählte. Im ersten Anlauf kippte das, irgendwann funktionierte es aber doch - ein bisschen aus der Not heraus, weil die ARD was machen musste. Das Projekt hatte übrigens absolute Geheimhaltungsstufe, da waren nur sehr wenige Leute mit befasst. Welcher Film zählt als der erste "Tatort"? Das ist schwierig. Der erste gesendete Film war "Taxi nach Leipzig". Trimmel, der Kommissar aus Hamburg, eine ganz tolle Kunstfigur des Autors Friedhelm Werremeier, reist in die DDR und muss den Tod eines Jungen aufklären. Es gab aber auch 1969 einen Film, der schon diesen Trimmel als Figur bemühte, aber eben noch nicht unter dem "Tatort"-Label gesendet wurde. Das war "Ich verkauf mich exklusiv", vielen gilt das als der erste "Tatort". Es war aber sicher einer, der aus Hamburg kam, darauf kann man sich einigen.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Francoise Werner war auch schon mal als Komparse in einem "Tatort" zu sehen. War die inhaltiche Ausrichtung damals eine andere als heute? Gerade in den 70er-Jahren gab es viele "Tatorte" ohne Mord. Anfangs sollten Ermittler gezeigt werden, die Kriminalfälle aufklärten, und da ging es bisweilen um ganz andere Dinge. Kommissar Lutz, der damals als "Wanderpokal" bezeichnet wurde, weil er immer in anderen Städten ermittelte, war auch mal in einem Falschgeld- oder im Wirtschaftsdezernat. Da gibt es etwa "Stuttgarter Blüten" von 1973, wo es um Falschgeld geht. Da wird jemand bei einem Autounfall verletzt. Das isses. Oder "Frankfurter Gold", der erste Beitrag des Hessischen Rundfunks - ein Wirtschaftskrimi. Der Wechsel kam aber relativ schnell, ab Mitte der 70er-Jahre dürfte es in jedem "Tatort" um Mord gegangen sein. Wahrscheinlich zieht das besser. In welchem "Tatort" gab's am meisten Leichen? Das ist "Abschaum", ein Bremen-"Tatort", da sind wohl 14 Menschen getötet worden. Das dürfte der Spitzenreiter sein, was aber auch am Schluss liegt, wo auf einen Schlag acht oder neun Leute erschossen werden. Wer hat denn am häufigsten ermittelt? Das waren die bayerischen Kollegen Batic und Leitmayr, die kommen auf 51 Folgen. Damit sind sie aber immer noch nicht die Dienstältesten. Das ist Lena Odenthal, Ulrike Folkerts spielt die Rolle seit 1989. Wer durfte nur einmal ran? Die sogenannten Eintagsfliegen! Oh, da muss ich nachzählen. Ich komme auf 20. Die Boulevard-Prese echauffierte sich in den letzten Jahren sehr häufig über den "Tatort" - wird er wirklich brutaler? Wenn man neue Produktionen mit einem alten "Schimanski" vergleicht: Nö, oder? Ich bin natürlich kein Wissenschaftler. In den letzten Jahren schaltet die ARD aber eher einen Gang zurück, finde ich. In den letzten zwei, drei Jahren sieht man doch keinen Mord mehr - man kriegt nur noch die Leiche serviert, erschossen, erstochen, wie auch immer. Das ist schon ein massiver Schritt zurück, was die Gewalttätigkeit angeht. Die Brutalität der alten Schimanski-"Tatorte" war im übrigen eine andere. Da ging es ja eher um Prügeleien, das ist auch weniger geworden. Unterm Strich hat diese Gewaltdiskussion um den "Tatort", durchaus auch durch die BILD-Zeitung getriggert, die ARD aber sicher sensibilisiert. Zuletzt gab es große Aufregung um einen "Tatort", der im Milieu der Aleviten spielte - ist diese politische Ebene ein Phänomen der Gegenwart? Nein, das ist überhaupt nichts Neues. Skandale und Aufsehen erregende Reaktionen von Politikern oder gesellschaftlichen Gruppen sind schon immer da gewesen. Die Intensität des Ganzen ist durch das mediale Zeitalter eine andere. Dass da jemand auf die Straße geht, das gab's natürlich früher nicht. In den 90er-Jahren gab es übrigens eine andere Form der Aufregung um die Berliner "Tatorte": Die wurden mit Videokameras gedreht und versprühten deshalb eine gewisse Homevideo-Ästhetik. Da regten sich viele auf, und der Skandal war, dass zum allerersten Mal ein Film der Reihe nicht auf dem klassischen Sendeplatz um 20.15 Uhr gezeigt wurde. Die mussten eine richtig teure Produktion um 23.00 Uhr ausstrahlen, weil sie den internen Ansprüchen nicht genügte. Wie nah soll der "Tatort" denn an der bundesdeutschen Realität sein? "Tatort" ist Fiktion und Unterhaltung, hat aber durchaus einen Realitätsanspruch, der auch oft erfüllt wird. Insgesamt gilt: Das, was da passiert, soll möglich sein. Anfangs orientierte man sich auch durchaus an Gerichtsakten. Natürlich gibt es immer wieder arge dramatische Zufälle, zudem wurde im letzten Jahrzehnt immer mehr aus dem Privatleben der Protagonisten erzählt. Jemand wie Max Ballauf (Kölner Kommissar, die Red.) müsste eigentlich als Psychowrack rumlaufen: Sein Vater wurde erschossen, mehrere Exfreundinnen starben - ob das vielleicht etwas zu viel ist, darüber kann man schon streiten. Dann haben wir mit den Münster-Fällen ja auch noch so eine Art Komödienstadl, wo es weniger um die Fälle geht. Aber das ist im Übrigen auch das Alleinstellungsmerkmal des "Tatorts": Vom Whodunnit bis zu einer ganz offenen Erzählstruktur ist da alles möglich. Wen würden sie denn gerne einmal als Ermittler sehen? Ich glaube, Jürgen Vogel würde das ganz gut hinbekommen, das schlug übrigens auch der "Tatort"-Erfinder schon einmal vor. Ich habe ihn zuletzt in dem Fernsefilm "Duell in der Nacht" gesehen, wo er einen jungen Kommissar spielte. Das war fast ein Kammerspiel. Ihn nahm man zunächst nicht für ganz voll, aber man musste mit ihm rechnen. Er würde da gut reinpassen, wäre sicher ein ganz schillernder Kommissar.

  • teilen
  • schließen