Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Wie waren die 00er für dich? Ein Gespräch über Musik

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

The Strokes: Is This It Max: Also für mich begannen die 00er-Jahre musikalisch mit den Strokes. Das „Is This It“-Album kam ja 2001 über die Welt, als hätte es vorher zehn Jahre lang keine Gitarrenmusik gegeben. Heute kann ich diese Begeisterung und den Erdrutsch an Nachfolger-Bands nicht mehr ganz nachvollziehen. Wie hast du das erlebt? Johannes Waechter: Die Strokes sind für mich gleich ein Grund, warum mich dieses Jahrzehnt musikalisch nicht so sehr interessiert hat. Es gab etliche, angeblich wichtige Bands wie die Strokes und Franz Ferdinand, die sich mit einem reinen Retro-Aufguss begnügt haben und damit einfach künstlerisch nicht sehr interessant waren.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

The Johannes Waechter Das ist so ein Argument, das man immer öfter hört und auch selber anbringt, je älter man wird. Aber die Musiker dieser The-Bands und des sogenannten „New Rock“ waren ja zumeist sehr jung, viele erst 16 oder 17. Kann man denen wirklich vorwerfen, dass sie nur Plagiate von 60er- und 70er-Jahre-Bands waren? Ich finde das darf man kritisieren, weil es schon schlicht eine künstlerische Faulheit ist, sich auf einer alten Masche auszuruhen. Natürlich sind Franz Ferdinand eine tolle Liveband und machen Spaß, aber wenn wir das Jahrzehnt auf seine musikalische Stichhaltigkeit und Strahlkraft abklopfen wollen, sind die eben meiner Meinung nach nicht besonders ergiebig. Franz Ferdinand live: "Matinee"

Mir scheint, die Popkultur der 90er war ja mit Britpop, Kate Moss und „Cool Britannia“ eher England-dominiert, zumindest nachdem in den USA eine gewisse Schrotflinte abgefeuert wurde. Die 00er-Jahre hingegen waren dann wieder eher ein US-Jahrzehnt im Pop, oder? Ja, das würde ich auch sagen, vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr der Pop-Mainstream heute von HipHop dominiert wird, bis hin zu Hiphop-Beats in jedem zweiten Popsong. Hiphop selber hat bei seinem Durchmarsch in den Mainstream im Gegensatz zu den 90er-Jahren aber viel an Kreativität eingebüßt. Ich finde, die interessanten Entwicklungen waren zum Beispiel der Neofolk in den USA, also Menschen wie Devendra Banhart und Sufjan Stevens oder die White Stripes, die für mich eine der interessantesten Bands der 00er-Jahre sind.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

The White Stripes Wirklich? Gerade die passen auch in diesen Retro-Vorwurf und scheinen sich doch geradezu körperlich in die Vergangenheit zu sehnen. Das ist ein ganz anderer Umgang mit der Vergangenheit. Klar, die sind ganz stark im Blues verwurzelt, genau wie auch im harten Gitarrensound etwa eines Jimmy Page. Die White Stripes haben das aber als kreatives Sprungbrett benutzt und nicht einfach kopiert. Das können wir, glaube ich, sowieso als das Kennzeichen für musikalische Qualität in den 00er Jahre definieren, also die Frage: Wie kreativ geht ein Musiker mit der Vergangenheit um? Denn etwas wirklich Neues, Ungehörtes, absolut Originelles habe ich in diesem Jahrzehnt nicht wahrgenommen Man hat schon ein wenig den Eindruck, als hätte es dieses Jahrzehnt wirklich versäumt, irgendeine nennenswerten neuen Sound zu liefern, etwas, das einem nicht schon nach einem Jahr wieder überflüssig vorkommt. Ich glaube es hängt auch damit zusammen, dass sich die Nutzungsgewohnheiten der Hörer in diesem Jahrzehnt so schnell und so stark verändert haben wie selten zuvor. Mit der mp3-Kultur hat die Popmusik einen neuen Status zugewiesen bekommen, sie wird anders gebraucht als früher. Jeder hat immer 20000 Lieder bei sich und hört die im Shuffle-Modus durch. Bei dieser ewigen Verfügbarkeit von Allem wird es schwieriger, einen neuen Sound zu etablieren.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der iPod-Shuffle Die Shuffle-Kultur und der Umstand, dass ich bei iTunes jedes Lied einzeln kaufen kann, führen natürlich auch zu einer Abwertung des Albums als Gesamtwerk und hin zu einem Einzelsong-basierten Musikerlebnis. Ist es schade, wenn das Album ausstirbt? Im Grunde war es ja auch nur eine willkürliche Größenordnung. Ich bedauere das sehr. Für mich waren nicht der Roman oder der Film, sondern das Album das Format, das die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts popkulturell definiert hat. Heute kann man ihm getrost das Totenglöcklein läuten. Aber bedeutet das, dass die Bands und Musiker noch viel mehr auf ihre zwei oder drei Hits reduziert werden, weil die das Einzige sind, was sich in meiner Playlist durchsetzt? Ich bekomme ja auch nur noch „Hits“ gemailt von Freunden, also einzelne Lieder die ihnen besonders gut gefallen und deren Youtube-Video ich mir anschauen soll. Zum einen ist es natürlich der Hit, der die Aufmerksamkeit für eine neue Band erzeugen muss. Zum anderen sehe ich an der Entwicklung weg vom Album auch einen gewissen Vorteil darin, dass die Bands nun frei sind, viel mehr zu veröffentlichen als früher, wo es nur alle zwei Jahre eben ein Album gab und basta. Heute muss eine Band konstant immer neues Zeug liefern, seien es Live-Videos, Bonus-Tracks, Remixes und so weiter, wenn sie im Web präsent bleiben möchten. Das ist eigentlich gut, denn je mehr man von einer Band bekommt, die man mag, desto besser.


Viel freier sind Musiker ja auch durch die technische Vereinfachung der Produktion. Die Computer und Programme sind in diesem Jahrzehnt so gut und einfach geworden, dass jeder Aufnahmen basteln kann, dazu Videos drehen und sich und seine Band im Netz quasi sofort veröffentlichen, verbreiten und zum Erfolg bringen kann. Das Nachsehen haben die Plattenlabels, die als Zwischenschritt und Produzenten zunehmend überflüssig werden. Aber für die Musiker ist diese absolute Liberalisierung doch gut, oder? Ich finde, das ist keine positive Entwicklung. Ich freue mich zwar darüber, dass es jedem möglich ist Musik zu veröffentlichen und man nicht mehr den Plattenfirmen in den Hintern kriechen muss, damit man irgendwann Gehör findet. Aber der Knackpunkt ist für mich dabei, dass sich der Sound massiv verschlechtert. Die Gesangskabine die man sich im Bandraum zur Aufnahme neben den PC hinstellt, ist mit einer richtigen Studioaufnahme nicht vergleichbar. Es ist eigentlich seltsam, dass alle anderen Technologien immer besser und feiner werden, nur die Aufnahmetechnik macht enorme Rückschritte. Die Durchschnittsaufnahmen von heute sind nicht mit der Qualität von Aufnahmen in den Profistudios der 50er bis 80er vergleichbar.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Studioprogramm "Cubase" Hängt das nicht einfach auch mit unseren gesunkenen Qualitäts-Ansprüchen zusammen? Ich höre ja nicht nur komprimierte Sounddateien, sondern ich höre sie meistens mit winzigen Kopfhörern von Hosentaschengeräten, während rundherum Lärm ist. Der Musikhörer von heute kann doch in den meisten Fällen mit dem Wort Aufnahmequalität überhaupt nichts anfangen. Er braucht es gar nicht. Wenn man auf dem iPod Musik hört, ist Hifi-Qualität sogar störend! Denn eine gute Hifi-Aufnahme enthält ja auch leise Passagen. Aber keiner will den iPod-Hörern zumuten, dass sie in der S-Bahn sitzen und die Gespräche der Mitreisenden hören müssen, weil plötzlich die Musik leiser wird. Weil Musik heute für iPods, Handys und billige Computerlautsprecher produziert wird, schränkt man die dynamische Spannweite der Musik radikal ein, so dass sie immer nahezu gleich laut dröhnt. Der unmittelbare Effekt: Hifi-Fans sind traurig, dass keine gut klingenden Platten mehr herauskommen. Aber das eigentliche Probleme liegt viel tiefer: Ich bin fest davon überzeugt, dass der Bedeutungsverlust der Popmusik auch eine Folge des schlechten Klangs ist. Was schlecht klingt und beim Hören keinen Spaß mehr macht, berührt auch niemanden mehr. Deswegen gibt es immer weniger Leute, die ihr Leben über die Musik definieren, die sie hören. Interessant ist, dass sich in den 00er-Jahren die Vinyl-Verkäufe im Gegensatz zu den 90er-Jahren verdoppelt haben. Natürlich sprechen wir hier nur über einen sehr kleinen Prozentsatz vom Ganzen, aber trotzdem, Vinyl ist nicht tot zu kriegen, während zum Beispiel die Musikkassette keine wahre Lobby hat. Und die CD? Ich denke, wir können in diesem Jahr auch schon den Abschied von der CD verkünden. Das große Re-Issue der Beatles-Alben auf CD war die letzte Fanfare für dieses Medium, eigentlich ist die CD schon scheintot. Neulich habe ich mich mit Devendra Banhart unterhalten, der sagt: „Vinyl records are the only possessions worth having“. Kleidung, Möbel und so sind egal, aber die Platte ist so ein tolles, kulturelles Artefakt, dass jeder, der sich heute eine Vinylplatte kauft, nichts falsch macht.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Beatles Remastered - und der Grabstein für die CD? Außerdem erfreuen sich Live-Konzerte ständig steigender Beliebtheit. Das Konzertticket hat sich in den 00er-Jahre spürbar verteuert, die Festivalkultur hat sich flächendeckend ausgebreitet und die meisten Festivals sind trotzdem noch ausverkauft. Viele Bands würden endgültig vor die Hunde gehen, wenn sie nicht die Erlöse aus Konzerttourneen und den dortigen Merchandising-Einnahmen hätten. Live ist also das große Ding der 00er, oder? Ja und das finde ich sehr gut. Man muss das im Zusammenhang mit der digitalen Verbreitung von Musik so sehen: Das Album, also eine anfaßbare Verbindung zum Künstler, hat an Bedeutung verloren, man möchte aber trotzdem den Musikern nahe sein, deren Songs auf dem Rechner man liebgewonnen hat. Also geht man zum Konzert und durch die schlechten Erlöse der Plattenverkäufe sind die Bands gezwungen, live zu spielen und auch an viele Orte zu reisen. Das ist gut, denn ein Konzert ist ein großartiges und vom Format her unzerstörbares Erlebnis. Ein Fortleben hat auch das Musikvideo, obwohl es zwischenzeitlich immer wieder für tot erklärt wurde, vor allem seit sich die Musiksender im Fernsehen nur noch am Rand damit beschäftigen. Aber wenn ich heute einen Ohrwurm habe und ein Lied hören möchte, gehe ich auf YouTube und höre es mir an, wobei ich das Video quasi als Dreingabe bekomme – und das Lied auch damit wieder versende oder in meinen Blog einbette. Das Musikvideo wird als Billigprodukt erhalten bleiben. Aber die Budgets, die in den 80er und 90er-Jahren für die Clips aufgewendet wurden, sind wohl für immer Geschichte. Ich muss sagen, dass ich mir mittlerweile oft lieber die Videos ansehe, die Fans zu einem Lied selber gemacht haben. Fanvideo zu "Es kotzt mich an" von Knorkator

Die Wahrnehmung verschwimmt dabei ja völig, man weiß gar nicht mehr, ob ein Video tatsächlich ein LoFi-Filmchen vom User ist, oder ein Regisseur die LoFi-Ästhetik dafür entworfen hat. Manchmal werden ja auch aus inoffiziellen Videos offizielle. Aber was sind denn Deiner Meinung nach heute die interessanten Schnittpunkte zwischen Musikern und Musikliebhabern, also das, was ganz früher mal die kleinen Plattenläden waren? Ich glaube das sind Blogs. Um darin etwas Neues und Ansprechendes zu entdecken, muss man sich erstmal durchkämpfen durch all diejenigen, die zwar Mitteilungsdrang, aber eigentlich nur genauso viel Ahnung wie ich selber haben. Die bringen mir ja nix. Aber man findet auch für alle Bereiche Blogs, hinter denen sehr viel Kenntnis und Aufwand stecken. Ich bin fest überzeugt, dass die wirklich interessanten Neuigkeiten und Trends morgen von dort kommen werden. Gibt es eigentlich durch die Netzkultur einen Verlust, weil ältere Musikstücke nicht digitalisiert und damit für die Netzgeneration vollkommen unsichtbar sind? Oder ist viel mehr Musik verfügbar? Mehr! Inzwischen ist es ja so, dass Plattensammeln überhaupt keine sportliche Herausforderung mehr ist, weil du fast jedes musikalische Werk im Netz finden und auch kaufen kannst, wenn du das Geld hast. Oder aber wenigstens eine digitalisierte Form davon bekommen. Ich weiß noch, wie ich in den 80er-Jahren teilweise jahrelang hinter Musikstücken hergerannt bin und sie einfach nicht bekommen konnte. Momentan ist so viel neue und alte Musik verfügbar wie nie zuvor Es ist Herausforderung mit diesem riesigen Schatz an Popmusik kreativ umzugehen. Einer der das sehr gut macht ist Bob Dylan. Sein Album „Love and Theft“ trägt dieses Thema schon im Titel, es geht darum sich etwas anzueignen was man schätzt und dann etwas herauszuholen, was vorher nicht sichtbar war. Eine Arbeitsanweisung, wie man heutzutage als Musiker vorgehen sollte. Diese Platte ist meine Platte des Jahrzehnts und übrigens am 11.September 2001 erschienen.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert
  • teilen
  • schließen