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"Wir wollen einen neuen Umgang mit Pornographie finden"

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Gemeinsam mit seinem Freund Riccardo hat der 31-Jährige Philosophie-Doktor Marco Annoni come4.org gegründet. Auf dieser Seite für online-Pornographie, deren Start die beiden Italiener über Crowdfunding finanzieren, sollen die Werbeeinnahmen für gute Zwecke gespendet werden. Im Interview spricht Marco über kritischen Porno-Konsum, seine Wunschcommunity und die unerkundeten Bereiche der Sexualität jenseits von "Fifty Shades of Grey".

jetzt.de: Marco, hast du dich jemals dafür geschämt, Pornos anzuschauen?
Marco Annoni: Ich bin niemand, der besonders leidenschaftlich Pornos ansieht, aber ich schäme mich auch nicht dafür. In der Vergangenheit vielleicht, aber jetzt, wo ich mehr darüber nachgedacht habe, nicht mehr.

Glaubst du, dass online-Pornographie heutzutage wichtig für die Entwicklung der eigenen Sexualität ist?
Ja, unsere Gesellschaft wird unterbewusst dadurch geprägt, dass pornographische Inhalte in einem großen Ausmaß konsumiert werden. Wir wollen nicht sagen, dass das schlecht ist, sondern mit unserem Projekt erreichen, dass genau darüber kritisch nachgedacht wird und vielleicht einen neuen Umgang damit finden, der sich öffentlich und nicht im Verborgenen abspielt.

Wie seid ihr darauf gekommen, Pornographie und Wohltätigkeit miteinander zu verbinden?
Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, viel Geld für wohltätige Zwecke spenden zu können. Ich war fasziniert von der Dynamik auf Blogs, wo Leute Werbung geschaltet haben, um das Geld zu spenden, und dachte, dass man dieses Prinzip maximal ausreizen und einen Weg finden müsste, ein hohes Maß an Traffic zu generieren. Dann habe ich den Fernseher angemacht und, naja, das italienische Fernsehen ist manchmal nicht besonders elegant und hat mich daran erinnert, was die Leute wirklich sehen wollen. Ich habe Riccardo angerufen und gesagt: Wie wäre es, wenn wir die erste Pornoseite gründen, die sich für wohltätige Zwecke engagiert. Er sagte: Das ist eine verrückte Idee, aber könnte klappen, also lass es uns versuchen.

http://www.youtube.com/watch?v=6XxcKHsvqIo
Riccardo und Marco erklären ihr Projekt.

In der Beschreibung eures Projekts setzt ihr mehr Ziele fest als nur das reine Spendensammeln. Was wollt ihr mit come4 erreichen?
Millionen Menschen schauen Pornos an und konsumieren sie einfach nur wie Produkte auf einem Markt. Aber ethische Grundsätze und kritischer Konsum sind heute sehr wichtig, wir denken ja zum Beispiel über unsere Nahrungsmittel nach. Unser Projekt soll genau diesen kritischen Konsums mit dieser Art von Inhalten verbinden. Und come4 ist eine kulturell-provokative Initiative. In unserer Gesellschaft gibt es noch viel zu tun in Bezug auf sexuelle Rechte, zum Beispiel von Menschen im Gefängnis oder Menschen mit Behinderung. Darüber sprechen wir nicht, obwohl wir es gewöhnt sind, überall sexuelle Inhalte zu sehen. Wir wollen die Aufmerksamkeit, die wir provozieren, nutzen, um über diese vernachlässigten Themen aufzuklären.

Ihr habt das Projekt per Crowdfunding gestartet und das hat sehr gut funktioniert. Warum haben die Menschen so rege gespendet?
Unser Projekt ist das radikalste dieser Art. Es gab schon viele Experimente, neu über online-Pornographie nachzudenken, aber alle haben irgendwie mit neuen Businessmodellen zu tun. Wir sind die erste non-Profit-Initiative. Wir wollen ein autarkes finanzielles Modell für diese Art von Seite erschaffen und haben uns deswegen für Crowdfunding und nicht für Investoren entschieden. Wir sagen: Lasst uns dieses Projekt alle zusammen erschaffen. Und Crowdfunding funktioniert genau nach diesem Prinzip.

Wie funktioniert die Verbindung zwischen den Videos auf eurer Seite und der wohltätigen Spende?
Wir wollen einen automatischen Mechanismus erschaffen, mit dem durch den Konsum, der ja schon da ist, Einnahmen für die gute Sache produziert werden. Das soll ganz einfach funktionieren. Sponsoren können einen Werbeplatz kaufen, am Anfang oder am Ende eines hochgeladenen Videos, oder direkt ein gesponsertes Video hochladen. Jeder kann die Videos umsonst anschauen und auswählen, an welchen guten Zweck die Einnahmen, die dadurch generiert werden, gespendet werden.

Was wird es auf come4 zu sehen geben?
Amateurpornographie von Nutzern und gesponserte, professionelle Videos. Wir hoffen auf ganz unterschiedliche Arten von Inhalten. Neben klassischen pornographischen Filmen würden wir gerne auch Menschen sehen, die die Sexualität auf verschiedene Arten erkunden, zum Beispiel künstlerische Projekte, Fotos oder Menschen, die von ihren Erfahrungen erzählen. Neben der Pornoindustrie, die natürlich verkaufen will, und neben Fifty Shades of Grey am anderen Ende des Spektrums gibt es noch viel mehr Schattierungen der Sexualität. Dieses Gebiet wollen wir erkunden.

Es gibt keine Limits?
Doch, es gibt, Richtlinien, zum Beispiel, dass wir keine Inhalte mit Minderjährigen wollen oder keine Videos, die die Autonomie einer Person verletzen.

Wir wollt ihr die Inhalte filtern und kontrollieren?
Als erstes müssen die Nutzer unsere Nutzungsbedingungen akzeptieren. Dann planen wir, einen Teil der Inhalte zu moderieren, das hängt aber davon ab, wie viel Budget, Energie und Personal wir dafür aufbringen können. Inhalte zu moderieren ist effektiv, aber auch kostenintensiv. Und dann sollen auch die Nutzer Feedback geben und unangemessene Inhalte melden, die wir dann sofort entfernen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Eines der Ziele von come4: Eine neue sexuelle Revolution.

Laut Beschreibung soll come4 auch eine Art Community werden. Wie soll die aussehen?
Idealerweise gründen wir eine Community aus Menschen, die sich den gleichen grundlegenden Prinzipien verbunden fühlen wie zum Beispiel Meinungsfreiheit, Respekt vor der Autonomie anderer und dass man jede Art von unethischen Handlungen ablehnt. Sodass die Menschen sagen können: Okay, ich genieße die Inhalte auf dieser Seite, aber sie sind vollkommen legitim.

Wie überzeugt ihr wohltätige Organisationen von eurem Projekt?
Wir wollen die Spendenempfänger vorsichtig auswählen. Wir wissen, dass manche Menschen sexuelle Inhalte als anstößig empfinden und wir respektieren das. Aber wir haben auch schon viele Mails von Organisationen bekommen, die bereit sind, Geld von unserem Projekt anzunehmen. Ich bin da sehr optimistisch.

Sind die Organisationen, die sich bisher gemeldet haben, vor allem solche, die sich um sexuelle Belange und Themen kümmern?
Es sind ganz verschiedene, aber die erste, die wir mit unserer Seite unterstützen wollen, ist eine Stiftung für behinderte Menschen. Innerhalb dieser wollen wir ein Projekt finanzieren, das Aufmerksamkeit für die sexuellen Rechte Behinderter erreichen will.

Wird es für die Nutzer transparent sein, wo das Geld hingeht?
Ja, im Fall der Initiative, die wir für die sexuelle Rechte Behinderter organisieren wollen, möchten wir zum Beispiel nicht nur das Budget transparent machen, sondern auch eine kurze Dokumentation realisieren, also den Menschen wirklich zeigen, was wir erreicht haben.

Wie geht es jetzt weiter und wann geht ihr online?
Wir wollten nicht, dass die Kampagne unerfolgreich ist, darum haben wir auf das kleinste Budget abgezielt, das wir brauchen, um ein funktionales Produkt aufzubauen. Aber mit einem größeren Budget können wir etwas viel Besseres daraus machen! Ich wünsche mir, dass die Menschen weiter spenden, von unserem Projekt erzählen und uns auch Kritik, Ideen und Feedback senden. Und im besten Fall können wir dann in sechs Monaten mit unserem Prototypen online gehen.


Text: nadja-schlueter - Fotos: Screenshots

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