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"Zuerst dachten wir, es wäre ein Witz"

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jetzt.de: Sven, du und ein Freund, ihr wurdet 2007 beim Gipfel in Heiligendamm wegen zwei Transparenten eingesperrt. Wie ging das genau vonstatten?
Sven Schwabe: Es gab in Rostock am Gipfelsamstag ziemlich große und eskalierende Demonstrationen am Rostocker Hafen, wo viele Menschen in Gewahrsam genommen wurden. Wir haben in einem Camp übernachtet. Dort hat eine Gruppe Weißrussen gebeten, sie zu einem Gefängnis in etwa 50 Kilometer Entfernung von Rostock zu fahren, wo einer ihrer Genossen in Gewahrsam sitzt. Wir hatten einen kleinen Van mit Platz für neun Leute und haben uns bereit erklärt, sie dort hinzufahren. Die haben dann die Transparente in den Kofferraum geladen und es ging los. Auf dem Parkplatz der JVA wurden wir dann von der Polizei kontrolliert, die uns ziemlich harsch ran nahmen. Ein Freund von mir ist bewusstlos geworden. Als sie die Transparente im Kofferraum gefunden haben, haben sie uns in Gewahrsam genommen. In der Nacht wurde vom Amtsrichter angeordnet, uns bis zum Ende des G8-Gipfels – also für sechs Tage – in Gewahrsam zu nehmen.

Was stand denn auf diesen Plakaten drauf?
Auf einem stand „Freedom for all prisoners!“ und auf dem anderen „Free all now!“

Und was war die Begründung des Richters?
Dass die Transparente nichts anderes bedeuten konnten als eine Aufforderung zu einer Gefangenenbefreiung und damit zu einer Straftat. Als hätten wir das Gefängnis stürmen wollen. Das Skurrile daran ist, dass wir nur neun Leute waren, und da auch sonst niemand gekommen ist. Das war ja nicht mal eine Demonstration. Eigentlich beruhte die ganze Aktion auf einem weißrussischen Brauch, nach dem man Gefangenen am ersten Abend ihrer Gefangenschaft ein Butterbrot und einen Gedichtband übergibt, um ihnen die eigene Solidarität zu zeigen. Das hatten die auch vor – glaube ich zumindest, wir haben die zum Teil nur sehr schlecht verstanden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Polizisten und ein Demonstrant während des G8 -Gipfels in Heiligendamm bei Rostock.

Habt ihr bei eurer Festnahme schon begriffen, dass ihr tatsächlich ein paar Tage ins Gefängnis müsst?
Dass Polizeigewahrsam als Mittel genutzt wird, um Leute von der Straße und von Demonstrationen wegzuhalten, war für uns nichts Neues. Das sieht man ja alljährlich bei Demos, zum Beispiel während der Castor-Transporte. Uns war damals klar, dass das auch in Rostock passieren würde. Nicht klar war uns, dass man mit diesen Mitteln Menschen nicht nur für ein paar Stunden einsperren kann, sondern sie tatsächlich sechs Tage ihrer Freiheit beraubt. Das hätte ich vorher nie gedacht.

Wann und warum habt ihr euch entschlossen, gegen dieses Vorgehen der Polizei zu klagen?
Wir haben sofort Anwälte angerufen, die sich um uns gekümmert haben. Die haben auch ziemlich schnell gecheckt, was für eine Riesen-Absurdität dieser Fall war. Insbesondere die Begründung, dass wir mit neun Leuten ohne irgendwelche Waffen Gefangene befreien wollten. Für die Anwälte war eigentlich klar: Okay, das Amtsgericht mag das so mitmachen, aber spätestens das Landesgericht wird uns freisprechen.

Ihr musstet dann aber doch durch alle Instanzen gehen...
Ja. Wir sind in den ersten Tagen, während wir noch in Gewahrsam waren, vors Landes- und vors Oberlandesgericht gezogen. Dort wurde die Begründung für unseren Gewahrsam dann noch mal geändert. Denen war wohl klar geworden, dass neun Leute keine Befreiungsaktion starten wollen und dass dort gar niemand war, den wir mit unseren Plakaten dazu hätten aufrufen können. Deshalb hieß es dann: Wir hätten ja ins 50 Kilometer entfernte Rostock fahren können, wo eine aufwieglerische Menge vorhanden gewesen wäre, mit der wir dann die Gefangenen hätten befreien können.

Das Bundesverfassungsgericht hat eure Klage gar nicht erst angenommen.
Richtig. Da war ziemlich schnell klar, dass hier etwas grundlegend falsch läuft und wir vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.

Wie sehr hat diese Odyssee dein Vertrauen in das deutsche Rechtssystem erschüttert?
Am Anfang dachten wir noch, dass das ein schlechter Witz ist oder da einem Gericht halt mal ein Fehler unterlaufen ist. Aber das hat sich eigentlich schon im Gefängnis geändert. Du sitzt da in einem leeren Raum, hast nichts zu schreiben oder lesen, niemanden, mit dem du sprechen kannst. Da ist nur die Wand und das Fenster mit den Gitterstäben. Da vergeht die Zeit unheimlich langsam. Nach zehn Minuten denkst du noch, dass das ein Witz ist. Aber nach einer Stunde, die dir schon vorkommt wie ein ganzer Tag, beginnt ein Gefühl der Ohnmacht und eine unglaubliche Wut in dir hochzusteigen. Und das verstärkte sich, weil der Fall sieben Mal deutschen Gerichten zur Entscheidung vorlag, und der Polizeigewahrsam immer für rechtmäßig erklärt wurde.

Warst du danach noch mal auf einem anderen G8-Gipfel?
Das nicht, weil die letzten Gipfel im Ausland stattfanden und nicht so leicht erreichbar waren. Ich kenne aber viele, die danach aufgehört haben, weil sie abgeschreckt wurden. Wegen Strafanzeigen, die Gerichts- und Anwaltskosten mit sich bringen, aber auch, weil die körperliche Unversehrtheit nicht unbedingt gewährleistet ist auf Großdemos oder bei Aktionen wie beim Castor-Transport.

Findest du, dass sich die Polizei oft falsch verhält?
Das wäre jetzt zu einfach gesagt. Aber ich glaube, dass man gerade bei solchen Großereignissen schon manchmal sehen kann, dass versucht wird, ein Krisenszenario herbeizureden, das ein härteres Vorgehen rechtfertigen soll.

Wobei es gewaltbereite Demonstranten ja auch definitiv gibt...
Natürlich. Da darf man auch gar nicht drum herumreden. Auch die Richter in Straßburg haben gesagt, dass es sich damals um eine außergewöhnliche Situation gehandelt hat. Aber sie haben auch gesagt, dass das trotzdem kein Grund sein kann, ein Menschenrecht außer Kraft zu setzen.

Noch hat die Bundesrepublik die Möglichkeit, Berufung gegen das Straßburger Urteil einzulegen.
Ja, innerhalb der nächsten drei Monate. Das ist aber unwahrscheinlich, weil – und das ist ja auch sehr spannend – das Gericht uns in fast allen Punkten unserer Klage Recht gegeben hat.

Ihr habt jeweils 3000 Euro als Entschädigung zugesprochen bekommen. Holt ihr eure sechs Gefängnistage jetzt auf den Malediven wieder rein?
Das wäre schon schön. Aber mir ist wichtig, dass dieses Geld jetzt denen zu Gute kommt, die unsere Klage in Straßburg möglich gemacht haben – Freundinnen, Freunde, Aktivistinnen und Aktivisten und dem republikanischen Anwaltsverein und der Roten Hilfe.

Glaubst du, dass das Urteil Konsequenzen haben wird?
Wir sehen die Polizei und die Justiz jetzt schon in der Pflicht zu handeln, damit so was nicht noch mal vorkommen kann. Wenn dieses Urteil dazu beiträgt, dass es in Deutschland und Europa in Zukunft nicht mehr möglich sein wird, dass die Polizei Menschen einfach so wegsperren kann, dann haben die sechs Tage vergeudete Lebenszeit etwas bewirkt. Das wird man bei den nächsten Demos vielleicht sehen.

Text: christian-helten - Foto: afp

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