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Zur falschen Zeit in Potzlow

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In Potzlow leben 450 Einwohner mitten im Nichts. Keine Geld, keine Arbeit, keine öffentlichen Einrichtungen – der Ort ist ein Musterbeispiel für strukturelle Armut in den neuen Bundesländern. Keine Mittel bedeutet auch: Keine Bewegung. Wer in Potzlow fest steckt, kommt dort so leicht nicht mehr heraus. Dadurch entsteht eine Langeweile, die alles erstickt. Die Menschen von Potzlow haben ihr wenig außer Alkohol und Cannabis entgegen zu halten. An einem Abend im Juli 2002 waren vier Jugendliche dort mal wieder gelangweilt und betrunken. Einer von ihnen - der 17-jährige Marinus – wurde von seinen drei Bekannten eine Nacht lang einem unfassbar grausamen Martyrium ausgesetzt. Die alkoholisierten Jugendlichen fühlten sich von dem Sprachfehler, den blondierten Haaren und den weiten Hosen des schüchternen Jungen provoziert. Zunächst zwangen sie ihn, Schnaps zu trinken, bis er sich übergab, dann begannen die Schläge und Misshandlungen. In der Morgendämmerung schleppten sie ihn in einen Schweinestall. Einer der Täter sprang auf Marinus’ fixierten Kopf und schlug ihn danach mit einem Waschbetonstein zu Tode. Die drei vergruben ihr Opfer in einer Jauchgrube. Erst vier Monate später wurde Marinus’ Leiche gefunden. Ausgegraben hat sie Mathias. Er war Marinus’ bester Freund und ist die Hauptfigur von Tamara Milosevics Film. Der schlaksige, leicht zerstreute Junge leidet bis heute unter einer schweren post-traumatischen Depression. Nach dem Fund der Leiche kam er Monate lang nicht mehr aus seinem Zimmer heraus, schmiss die Schule und war nicht mehr ansprechbar. Verständnis fand Mathias bei niemandem. Seine Eltern halten seine Probleme für Schwäche und Faulheit. Auch heute ist Mathias der einzige, der noch von dem Mord spricht, sich Gedanken macht, wie es dazu kommen konnte und was mit dem Leben in Potzlow eigentlich nicht in Ordnung ist. „Wie dumm können Menschen sein, dass sie so weit gehen?“, fragt er im Film. In „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ zeigt Tamara Milosevic einen Alltag, der von Schnaps und Schlägereien beherrscht wird. Doch auch der ist keine Antwort auf die vielen Fragen an Potzlow, sagt die Regisseurin.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Du warst jetzt ein paar Tage mit deinem Film in den neuen Bundesländern unterwegs. Wie ist er dort angekommen? Mich hat überrascht, wie entspannt das Publikum geblieben ist. In Berlin oder Stuttgart kamen die Leute ziemlich aufgewühlt aus dem Film. In Potsdam und Neubrandenburg war niemand besonders erschüttert – für die Menschen dort sind diese Zustände die Normalität, die haben das jeden Tag vor ihrer Haustür. Wie sieht die Normalität eines Jugendlichen also aus in einem Ort wie Potzlow? Da dominiert eine Enge, der man nicht entfliehen kann. Weil es keine Möglichkeit gibt zu jobben oder eine Lehre zu machen, haben junge Menschen auch keine Perspektive. Der Alltag besteht daraus, herum zu sitzen, Alkohol zu trinken und Phrasen zu dreschen. Man beschäftigt sich mit nichts, aber man wüsste auch nicht womit. Und es sind nicht mal Eltern da, die einem helfen könnten. Denen geht es nämlich nicht anders.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das sieht man im Film an Mathias und seiner Familie. Ja, zwischen Eltern und Kind ist eine riesige Distanz. Mathias hat extrem schwere Probleme und die Eltern stehen dem komplett hilflos gegenüber. Sie verstehen nicht, dass Mathias den Mord nicht einfach mal vergessen kann – schließlich macht das der Rest des Dorfes auch so. Der Bürgermeister der Gemeinde äußert irgendwann die These, dass die Leute in Potzlow nach dem Mord an Marinus eine Art Antihaltung zu den Medien eingenommen hätten. Deswegen fände keine Auseinandersetzung mehr statt. Wie hat Potzlow denn reagiert, als du plötzlich mit einem Kamerateam im Dorf auftauchtest? Naja, ein paar Türen wurden mir schon vor der Nase zugeknallt. Allerdings arbeitet man bei einem Dokumentarfilm ja auch anders, als etwa bei einer Fernsehreportage. Wir haben viele Monate dort verbracht, und mit den Leuten vorab Interviews geführt. Ich habe bereits im November 2003 mit Mathias Familie besprochen, dass ich sie in den Mittelpunkt des Films nehmen wollte. Als wir ein halbes Jahr später mit den Dreharbeiten begannen, kannten wir uns schon ziemlich gut.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

So gut, dass die Menschen vor der Kamera kaum ein Blatt vor den Mund nehmen. So sagt Mathias’ Vater einmal, ein schüchterner, schwacher Junge wie Marinus hätte nicht frei in der Gesellschaft herum laufen dürfen, sondern ins Heim gehört. Ist der Alltag in Potzlow brutaler als anderswo? Ich denke schon, dass eine latente Aggressivität in vielen Menschen vorhanden ist. Dazu kommen ein enorm hoher Frustpegel und das völlige Fehlen einer Streitkultur. Die Leute dort wissen nicht, wie man diskutiert. Also kommt es immer wieder zu Situationen, in denen die Grenze zwischen Spaß und Gewalt schnell verschwimmt. Allerdings sind das auch Mechanismen innerhalb dieser Gruppe. Das darf man nicht auf das ganze Dorf beziehen. Dort gibt es genügend Menschen, die ganz anders drauf sind. Die Misshandlung von Marinus fing ja angeblich auch als Zeitvertreib an, der Mord war ursprünglich nicht geplant. Du hast jetzt sehr viel Zeit in dem Umfeld verbracht, wo es so weit kommen konnte. Bist du auf irgendeine Erklärung gekommen? Ich kann und will auch gar keine Antwort geben. Was ich in Potzlow gesehen habe, versuche ich im Film offen und objektiv zu zeigen. Die Zusammenhänge muss der Zuschauer dann selbst erstellen. Mehr Informationen zum Film findest du hier. Bilder: zurfalschenzeit.de

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