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Aus traurigem Anlass: Virginia jetzt! -Classics

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Die Band, die sich Virginia Jetzt! nennt und gerade ein neues Album eingespielt hat, holt mich am Hotel ab. Schlagzeug-Angelo fährt den schwarzen Transporter und hat sich dazu auch einen schwarzen Helm aufgesetzt, der seine Frisur ist. Sprühhart, aber gerecht. Von ihm weiß man übrigens gar nichts. Nur, dass er nie etwas sagt. Außerdem sprinten mit: Gitarren-und-Klavier-Thomas, halb im Kofferraum stehend, verbringt er die Fahrt nach Potsdam damit, die mitgeführten Verstärker zu nummerieren. Dieser junge Mann gibt einem selbst gebückt und fluchend ein gutes Gefühl, außerdem komponiert er alle Lieder der Band und ist schlau wie ein Fuchs. Sänger Nino, der Nachdenkliche, sitzt neben mir und ist ziemlich still, später erfahren wir auch warum: Er wird gerade krank. Und wie werden Rockstars krank? Beim Videodreh in Portugal unbedacht einen Virus aufgerissen und mit nach Haus genommen! Die nächsten Tage wird sich Nino regelrecht auf die Bühne schleppen, aber die Fans werden es nicht mal merken - wegen absoluter Profiness. Das Heldenquartett wird mit Bass-Mathias komplett, der die ansehnliche Schweigsamkeit seiner Kollegen durch ambitioniertes Plaudern übertüncht. Interessante Essenz daraus: In Berlin ist der iPod noch das ganz verrückte Ding aus Amerika, während es in München schon wieder so was von durch ist, damit aufzukreuzen. Außerdem fährt ein blinder Passagier mit im Bandbus von Virginia Jetzt!, und zwar eine junge Dame, die Nervosität heißt, und die sich von der Aussicht auf live noch unerprobte Stücke locken ließ. Immerhin trägt das neue Album "Anfänger" nicht mehr das Prädikat "sommerlicher Gitarrenkracher", sondern erstmals eine Goldborte, auf der steht "gut abgehangenes Popalbum". Das heißt: weniger hüpfen, mehr zuhören! Ob das den Fans gefällt? Im Potsdamer Kulturzentrum Waschhaus wartet um kurz nach vier aber noch kein Fan, nur Mischer Ben steht hinter dem Mischpult und möchte endlich mischen, deswegen schickt der die Jungs auf die Bühne. Liveprobe. Alles wie in echt, nur eben ohne Fans und nachmittags. Statt entzückter Fanschreie hört man nach den Liedern nur, wie die Techniker in Gürkchen beißen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein paar Jahre lang waren sie das gute Gewissen aller Turnschuhträgermädchen und Festivalzeltaufbau-Jungs. Aus Elsterwerda stammend, wurde die Band „Virginia Jetzt!“ zum Jahrtausendwechsel vom Berliner Radiosender Fritz! entdeckt. Danach funktionierte für sie alles wie im alten Indie-Bilderbuch: Erste EP bei Marc Liebscher. Mit „Mein Sein“ und „Pophymnen“ wunderbare Geheim-Hits, die auf jeder Geschenk-Kassette landeten. Videos von Benjamin Quabeck, Fanzine-Hypes und schnell viele nette Fans, die ihre deutschen Pophymnen mitsummen konnten. Es folgten ausgiebige Touren durch sämtliche Jugendzentren der Nation. 2003 wechselte die Band zum Major-Label Motor und kam mit dem Ohrwurm-Album „Anfänger“ immerhin bis Platz 17 in die Charts. Die wachsende Popularität markierte das Ende ihrer goldigen Indie-Existenz, die für viele Fans wichtiger Bestandteil der Band war. Die vielen weiblichen Fans brachten ihr in der Szene bald den abschätzigen Titel „Mädchenband“ ein, in der Neuen Hamburger Schule um Tomte und Kettcar war die Band nie sonderlich wohlgelitten. Ebenfalls 2003 warf die Berliner Sängerin Mieze den vier Jungs übersteigerten Nationalismus vor, ausgehend von der Zeile „Das sind mein Land, meine Menschen, das ist die Welt, die ich versteh“ aus dem Lied „Liebeslieder“, obwohl der Text eine Referenz an einen Song von Randy Newman darstellt. 2005 nahm Virginia Jetzt! am Casting zu Stefan Raabs „Bundesvision Song Contest“ teil und belegte den achten Platz. In der zweiten Hälfte der Dekade wurde es ruhig um die einstigen Shootingstars, es folgten noch zwei Alben, die aber nicht mehr an die Leichtigkeit und den Erfolg der ersten Veröffentlichungen anknüpfen konnten. Gegen fünf Uhr trifft noch die Vorband ein, Crash Tokio aus München, und man begrüßt sich herzlich zwischen Bühne und Bassanlage. Daraufhin folgt das, was andere schon Rock nennen: rumlümmeln im Backstageraum und Wurstbrötchen spazieren führen, zwischen Hand und Mund. Gesprochen wird dabei über Schlagzeuger, die ihre Becken drei Wochen im Garten vergraben (klingen danach besser) und andere Jungsthemen, obwohl Crash Tokio mit Nina ja sogar ein Mädchen dabei hat. Die Aussicht auf ein warmes Abendessen lockt alle nach draußen, wo aber, herrje, schon die ersten Mädchenfans stehen und winken. Ein Interview muss auch noch gemacht werden, und weil Nino kränkelt und Thomas organisiert, gehen Mathias und der stumme Angelo. "Aber Angelo, du musst mindestens 50 Prozent selber sagen!" - "Hmpf!" Etwas später stehen schon Crash Tokio auf der Bühne und machen Geräusche, ziemlich schöne. "Hui, sind die gut geworden", murmelt Mathias, zieht sich dann nicht weiter die Vorband rein, sondern das Auftritts-Shirt an. Es ist halb zehn, und es geht los. Die Tokios drehen final die Gitarren auf, die Band Virginia Jetzt! hüpft kribbelig hinter der Bühne herum, Nino sprintet durch den Raum, Mathias boxt gegen die Wand, alles gackert und dann endlich: rauf und rein. Das längliche Waschhaus ist zu zwei Dritteln gefüllt - 250 Leute, schätzt Thomas später, die mit dabei sind, wie ihre Band das Tourjahr einläutet, nach halbjähriger Bühnenabstinenz. Die neuen Stücke werden von den Fans wohlwollend abgenickt, die alten gefeiert wie Lottogewinne. Virginia Jetzt! ist übrigens vielleicht die einzige Rockband der Welt, zu deren Clubkonzerten die Fans Flipflops anziehen. Nach dem Konzert streuen sich die vier Jungs gekonnt unters wartende Volk und fragen die Mädchen mit Virginia Jetzt!-T-Shirts, wie ihnen denn das Konzert gefallen habe. Und die Mädchen sagen: "Super!" Damit ist alles klar, und dann muss nur noch das Bier aus dem Backstageraum unter den Sitzen im Bandbus eingelagert und der Bierpegel der einzelnen Bandmitglieder geschätzt werden. Irgendeiner muss schließlich den Bus zurückfahren.

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