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Thore + Miriam

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Thore und Miriam sind ein Paar seit einem Jahr, und morgen werden sie sich trennen. Thore sitzt auf dem Behandlungsstuhl, der Arzt gleitet mit einer Ultraschallsonde über seine linke Brust. "Ich drucke Ihnen das vier Mal aus", sagt er. Auf einem schwarz-weißen Fernseher flimmert ein Bild von Thores Herz. "Und Sie wollen das wirklich verschenken?", fragt der Arzt. "Ja", antwortet Thore, "an meine Freundin." Miriam sitzt auf ihrem Bett und stopft T-Shirts in einen Wanderrucksack. In eine Seitentasche schiebt sie den Reiseführer für Australien und ein blau-weiß gestreiftes Hemd. Es gehört Thore. Wenn sie ihn vermisst, will sie es anziehen. Am Freitag wird Miriam in ein Flugzeug steigen, das sie nach Melbourne bringt, rund 16 000 Kilometer weit weg von ihrer Heimatstadt Hannover, nach Australien. Ein Jahr lang will sie reisen und als Erntehelferin Melonen pflücken. Thore wird in ein paar Wochen nach China fliegen, auch für ein Jahr. In Peking möchte er Kindern Englisch beibringen. Miriam und Thore sind 18 und 19 Jahre alt. Für beide ist es der erste Abschied. Was Thore und Miriam erleben, ist einer [i]der[/i] Konflikte ihrer Generation: Sie wollen sich trennen und doch zusammenbleiben. Sie suchen Freiheit und müssen dafür ihre Beziehung auf ein Skype-Fenster reduzieren. Zwar haben sie Angst, allein zu sein, aber das Fernweh ist stärker.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Thore wechselte in der neunten Klasse auf Miriams Schule. Sie fand damals peinlich, dass er Nietengürtel trug und noch schlimmer, dass er rauchte. Thore beachtete Miriam nur, wenn er ihre Hausaufgaben abschreiben wollte. In der Oberstufe änderte sich das: Miriam saß drei Plätze vor ihm im Spanischunterricht. Thore mochte ihre Haare und fand toll, dass sie sich kaum schminkte und nicht zickig war wie die anderen. Er schrieb ihr Briefe; sie dachte, er wolle sie damit ärgern, schließlich war er berüchtigt, ein Aufreißer. Er setzte sich neben sie, lud sie zum Eis ein, ging mit ihr feiern. Nach einer durchgetanzten Nacht küsste er sie. "Hast du das jetzt gemacht, weil du betrunken bist?", fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Seit diesem Tag sind Thore und Miriam zusammen. "Wofür hast du dir eigentlich eine Jahrespackung der Pille geholt?", fragt Miriams Mutter. Es ist das letzte Abendbrot vor der Abreise. Thore starrt auf sein Glas Wasser. Miriams Wangen röten sich. "Naja, vielleicht sehen wir uns ja mal", sagt sie. Thore trinkt das Glas in einem Zug leer. Thore ist Miriams erster Freund. Sie nahm ihn mit ins Pfadfinderlager und in die Oper; Thore schleppte sie auf Elektropartys. Miriam gab ihm die Ruhe, die er sonst nirgends fand. Seinen Nietengürtel warf er weg. Als Miriam ihn ihren Eltern vorstellte, zog er ein Hemd an. Einmal pflückte Thore alle Osterglocken, die er finden konnte in den Beeten in Miriams Straße, und brachte sie ihr ans Bett - Miriam füllte fünf Vasen damit. Weihnachten schenkte sie ihm einen ihrer Weisheitszähne. Nach dem Essen fahren Thore und Miriam zur Eisdiele. Er zahlt. Das hat er selten getan. Arm in Arm gehen die beiden spazieren. Thore und Miriam umarmen sich. Minutenlang stehen sie so da, als könnten sie den Moment festhalten. Sie haben im Deutschunterricht gelesen, dass in jedem Abschied ein Anfang wohnt und versuchen, das zu glauben. Sie vertrauen auf ihre Liebe. Doch beide ahnen, dass ihre Gefühle auch verloren gehen könnten irgendwo auf der Strecke zwischen Melbourne und Peking. "Wie geht's dir?", fragt Thore. "Eigentlich gut", sagt Miriam. Sie weint. Die beiden haben nicht darüber gesprochen, wie es sein wird, wenn sie an verschiedenen Orten leben. Thore wollte das nicht, er könne nicht, hat er gesagt. Es ist dunkel geworden als Thore und Miriam zusammen im Badezimmer stehen und sich die Zähne putzen. Beide schauen den anderen im Spiegel an. Sie putzen, bis sie keine Zahnpasta mehr im Mund haben. Dann legen sie sich auf das Bett in Miriams Zimmer. Thore kramt in seinem Rucksack und holt eine Packung Kürbiskerne hervor, die haben die beiden oft zusammen gegessen. "Das ist noch nicht das richtige Geschenk", sagt er. Miriam lächelt. Sie greift unter das Bett und wirft ein graues Bündel an Thores Kopf. Es ist eines ihrer T-Shirts, das er oft getragen hat, als er bei ihr schlief. Sie geht zum Schrank und nimmt ein rosafarbenes Tuch heraus, ein Fotoalbum und eine Schildkröte aus Plastik. "Damit du an mich denkst." Sie küsst ihn. "Äh, Miriam", fragt Thore. "Mmh." "Wieso eigentlich eine Schildkröte?" "Weil du mein Panzer bist, du Trottel." Thore will Miriam sein Geschenk morgen am Bahnhof geben, wenn sie in den ICE nach Frankfurt steigt. Er hat lange überlegt, ob er Miriam zum Flughafen begleiten soll, aber allein zurückfahren würde er nicht ertragen, sagt er. Über die Möglichkeit, zusammen ins Ausland zu gehen haben die beiden nie gesprochen. Miriam sagt, sie wolle keinen Pärchenurlaub machen, sondern auf eigenen Füßen stehen. Thore sagt, er wolle erwachsen werden, das ginge nur allein. Der Wecker klingelt morgens um sechs. Thore und Miriam bleiben noch ein paar Minuten liegen. Als seine Atmung ruhiger wird und er ein wenig anfängt zu schnarchen, legt Miriam einen Arm um ihn, sie sagt: "Am meisten Angst habe ich, dass ich vergesse, wie du dich anfühlst." Thore antwortet nicht. Er schaut an die Decke und presst die Lippen aufeinander. Zwei Stunden später sitzen die beiden auf der Rückbank im Auto von Miriams Eltern. Ihr Vater fährt viel langsamer, als er dürfte, bei jeder grünen Ampel geht er ein wenig vom Gas. Wenn der Wagen steht, beobachtet er seine Tochter im Rückspiegel. Miriam hält Thores Fingerspitzen mit beiden Händen umschlossen. Diesen Weg hat sie oft genommen, als sie Thore von der Bahn abgeholt hat, doch da fuhr das Auto immer in die andere Richtung. Am Bahnhof warten Miriams Freunde. Alle wollen sie noch einmal drücken. Eine von den Pfadfinderinnen sagt zu Thore: "Ist ja nur ein Jahr, gibt Schlimmeres." Er versucht zu lächeln. Der Zug fährt ein. Miriam umarmt ihre Brüder, die Schwester, die Eltern. Ein paar Meter abseits wippt Thore von einem Fuß auf den anderen. Die linke Hand hat er in seine Hosentasche geschoben, er knetet die kleine Plastikschildkröte, die dort liegt. Dann schaut Miriam ihn an. Sie weint. Sie rennt zu ihm, drückt ihr Gesicht an seine Brust. Thore legt seine Arme um ihren Nacken. Er beugt sich runter zu ihr. Sie flüstern. Er gibt ihr den Brief mit dem Bild seines Herzens. Ein letzter Kuss. Sie steigt in den Zug. Die Tür schiebt sich zu. Sie legt ihre Hand von innen gegen das Fenster. Er schaut in die verspiegelte Scheibe des Zuges, sieht die Tränen, die über seine eigenen Wangen laufen. Miriam sieht er nicht mehr. [b][i]Hier könnt Ihr Lesen, was Thore und Miriam erleben in ihrem Jahr im Ausland:[/b] Miriams Blog + Thores Blog jetzt.de

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