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„Was viele ,Krise’ nennen, ist ein Krieg“

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Für jetzt.de ist Charlotte eine Woche lang mit deutschen Studenten in Kiew unterwegs. Sie will sehen, was von den Protesten geblieben ist, sie will wissen, wie der Staat vorhat, sich neu zu organisieren und sie will von den Menschen selbst erfahren, wie es ihnen geht. Die Antworten, die sie findet, schreibt sie täglich hier für euch auf.    

Tag 1  

Die Leute klatschen inbrünstig, als das Flugzeug gestern Abend um kurz vor sieben ukrainischer Zeit ankommt. "Zum Glück sind wir überhaupt gelandet und nicht mit Malaysian Airlines geflogen", sagt ein Mann, während wir im strömenden Regen die Gangway zum Shuttlebus herunterstapfen. Ein anderer findet das urkomisch. "Hallo Kiew", denke ich.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Vor mir liegen sechs Tage Ukraine. Ein Land, in dem ich noch nie in meinem Leben war. Ich spreche weder Ukrainisch noch Russisch. Im Flieger habe ich erfolglos versucht, mir zumindest die kyrillischen Buchstaben einzuprägen, und dann doch lieber im Reiseführer gelesen. "Touristisches Kleinod der Ukraine", so wird die Krim darin beschrieben. Der Reiseführer ist von 2012. Städte wie Charkow und Donezk im Osten des Landes werden für ihre "konstruktivistische Architektur erlesener Sakraldenkmäler" und als "Stadt der Millionen Rosen" gelobt. Wenn ich heute "Ost-Ukraine" lese, denke ich vor allem an eins: Krieg.  

Dass ich trotz fehlender Fachkenntnis hier bin, habe ich vor allem einer Hand voll engagierter Studenten aus Deutschland zu verdanken: Marie-Louise, Friedrich, Justus und Michael studieren in München die unterschiedlichsten Fachrichtungen und träumten schon länger von einer Ukraine-Exkursion. Durch die politischen Umbrüche der letzten Monate bekam das Projekt für sie einen neuen Drive: Anfang Juli schrieben sie mit Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes eine einwöchige Exkursion aus. Das Interesse war groß: 140 Bewerber gab es auf die 20 Plätze, ich darf als journalistische Begleitung mitfahren. Organisatorin Marie-Louise sagt über das Ziel der Reise: "Wir möchten erfahren, welchen Herausforderungen die Ukraine sich in dieser neuen Situation stellen muss und wie sie sich reorganisieren kann." Dafür treffe ich mit ihnen jetzt eine Woche lang Botschafter, Sozialarbeiter, Künstler, Studenten - ob wir die Fragen danach beantworten können, bleibt abzuwarten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Kerzen, Bilder und Blumen sollen an die Toten erinnern. 

Der 24. August ist in der Ukraine als Unabhängigkeitstag besonders wichtig. Marie-Louise und ich gehen abends noch zum Maidan, die Stadt leuchtet in den Nationalfarben blau-gelb. Ein Straßenmusiker singt in der Unterführung, Mädchen mit blau-gelb-lackierten Fingernägeln klatschen. Bis vor kurzem waren hier noch Überbleibsel der Proteste vom Winter und Frühjahr zu sehen, Bürgermeister Vitali Klitschko hat allerdings vor dem Unabhängigkeitstag aufräumen lassen. Was übrig blieb, sind die Gedenkstätten für die über 80 Toten: An Bäumen sind Plastikblumen, Rosekränze und große Fotos angebracht. Die Abgebildeten wurden hier erschossen, als sie versuchten, sich vor Scharfschützen zu verstecken. Manche sind nicht einmal volljährig geworden. Später laufen wir auch noch zum Präsidentenpalast, der sich wie eine Wand im Hintergrund des Maidan erstreckt. Eine Gruppe Betrunkener schäkert dort mit einem Polizisten, es brennt kein Licht. Präsident Poroschenko wird am Dienstag in Minsk den russischen Präsident Putin treffen, einige hoffen, dass sie eine Waffenruhe aushandeln.  

"Die tun erst etwas, wenn wirklich eine Bombe bei dir einschlägt - dann geben sie dir ein Zelt."  

In meinem Hostel essen Backpacker in der Küche die Schokolade von Poroschenko, in Russland sei diese mittlerweile verboten, erzählt jemand. Ich unterhalte mich mit einem Mädchen, das in meinem Zehnbettzimmer das Stockbett unter mir belegt: Sie ist Mitte 20, kommt eigentlich aus Donezk und hat dort Französisch studiert. Wegen der ständigen Kämpfe und Anschläge sei sie geflohen - nach Kiew. Seit Juli lebt sie im Hostel, vor dem Bett hat sie mittlerweile eine Kleiderstange mit ihren Sachen aufgebaut. Sie sucht einen Job, allerdings sei das zur Zeit kompliziert und einfach ins Ausland abzuwandern ist für Bürger der Ukraine, die kein Staat des Schengener Abkommens ist, schwierig bis unmöglich. Also wartet sie darauf, dass sich etwas ändert. Auch ihre Freunde seien zum Großteil nach Westen geflohen, nach Russland würde keiner von ihnen freiwillig gehen. Teile ihrer Familie seien immer noch in Donezk glücklicherweise unverletzt. Sie hätten regelmäßig Kontakt, zurückfahren sei neben der Gefahr allerdings alleine schon logistisch unmöglich: Die Zugstrecke sei teilweise zerbombt.  

Marie-Louise erzählt mir, dass auch bei ihr im Zimmer Flüchtlinge untergebracht seien, so lerne ich Natalia, 60, kennen. Natalia war Deutsch-Dozentin, auch an der Uni in Donezk, ihre 24-jährige Tochter Nadja hat dort Englisch studiert. Da seien jetzt aber nur noch anderthalb Leute sagt Natalia, die Prüfungen wurden in den letzten Wochen nur noch über Skype abgenommen, weil es zu gefährlich war. Die 60-Jährige ist eigentlich eine starke Frau, jetzt sieht sie verloren aus, wie sie mit der akkurat gebügelten Blümchenbluse so zusammengekauert im unteren Stockbett sitzt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nadja, 24, sollte eigentlich gerade in Donezk Englisch studieren. 

Als kein Alltag mehr möglich war, die Bomben immer mehr wurden, hat Natalia mit ihren Kindern beschlossen zu fliehen, über Odessa nach Kiew. Das war vor zwei Monaten. "Wir dachten, es wäre nur für ein paar Wochen. Aber bald ist Herbst und wir sind immer noch hier im Hostel", sagt Natalia. Weil ihre Kinder nur Sommerkleidung dabei haben, will sie in den nächsten Wochen nach Donezk fahren und mehr Sachen holen. Und schauen, ob ihre Wohnung noch steht. Ihre Tochter Nadja hält das für Wahnsinn. Sie selbst schaut sich nun nach einem Job in Kiew um, ihre Mutter müsse eigentlich bald in Rente gehen, sagt sie.

Auch ihre Freunde haben Donezk größtenteils verlassen, wer keine Kontakte in den Westteil des Landes habe, sei wie sie in Hostels gegangen. Obwohl der Tourismus in der Ukraine seit der Krise eigentlich zusammengebrochen ist, sind die nun ganz gut ausgelastet. "Aber das Hostel ist teuer", erklärt Nadja, "wir leben von unserem Ersparten, aber wie lange noch?" Ihr Mutter sagt dazu: "Unser Leben steht momentan unter einem großen Fragezeichen. Was viele ,Krise' nennen, ist ein Krieg". Auf die ukrainische Politik vertraut sie nicht: "Die tun erst etwas, wenn wirklich eine Bombe bei dir einschlägt - dann geben sie dir ein Zelt", sagt sie. Dass die anderen Länder so wenig für die Ukraine tun, regt sie auf. Andererseits sagt sie: "Für euch in Deutschland muss das so sein, wie für uns früher, wenn in China mal was los war." Die deutschen Kontakte aus ihrer Studentenzeit hätten ihr bisher kein Stück geholfen.

Text: charlotte-haunhorst - Foto: o.H.

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