Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Einer muss es ja machen

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Das musikalische Gedächtnis Deutschlands trägt ein graues Hemd, eine kleine Brille und spricht mit sächsischem Einschlag. Sein Name: Matthias Matthes. Matthes, 61, kopiert mit einer Handvoll Mitarbeitern für das Deutsche Musikarchiv CDs. Und zwar nicht nur ein paar spezielle Liebhaberstücke. Nein. Alle CDs. Alle, die seit der Einführung der CD in Deutschland erschienen sind. Per Hand, Stück für Stück. Captain Jack. Gustav Mahler. Bravo-Hits. Egal. 500 Stück am Tag. „Für eine CD brauche ich 27 Sekunden“, sagt Matthes trocken. Er hat es gemessen. Es ist eine gigantische Aufgabe.

Gerade steht er in einem Büro der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig - in dem Gebäude ist das Musikarchiv untergebracht. Vor ihm: ein unscheinbarer, kühlschrankähnlicher, ständig brummender, grauer Automat, den alle hier „Jukebox“ nennen. Er ist das Herzstück der Digitalisierungsmaschinerie, die Grenze und das Portal zwischen analoger und digitaler Welt. Ihn muss Matthes mit CDs befüllen. Das passiert aber nicht mit einem dieser orangefarbenen, ultrapräzise arbeitenden Roboterarmen, die man aus Fabriken oder Hightech-Laboren kennt. Matthes macht das händisch. Knopf drücken, Laufwerk fährt raus, CD drauf, Knopf drücken, Laufwerk fährt wieder rein. 500 000 CDs haben sie so in den vergangenen Jahren umkopiert. Es habe zwar mal Überlegungen gegeben, ob das nicht auch irgendwie einfacher und besser ginge - weil: Der Mensch schießt ja auch Roboter auf den Mars, die Selfies von sich machen können. Aber: „So wie wir das machen, ist das der ökonomischste und schnellste Weg“, sagt Matthes.

Das Herzstück ist ein unscheinbarer, grauer Automat. Sie nennen ihn hier nur "Jukebox".

Der 61-Jährige ist hier zwar weder der Chef noch hat er das Digitalisierungsprogramm ausgetüftelt. Früher hat Matthes eigentlich mal Kopierer repariert. Aber er kennt die Jukebox in- und auswendig. Er weiß, was los ist, wenn sie ein wenig tiefer brummt als normal. Fragt man Matthes nach der ersten CD, die hier jemals digitalisiert wurde, schießt die Antwort sofort aus ihm heraus: „‚The Visitors, Abba, 1981.“ Matthes ist CD-Digitalisierungsexperte. Auch wenn sie hier in Leipzig - ganz streng genommen - die CDs nicht digitalisieren, sondern die digitale Information umspeichern. Von einem Medium auf ein anderes.*

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Man kann sich jetzt fragen, warum das Musikarchiv sich überhaupt so eine Riesenarbeit macht. Es müssen nämlich nicht nur CDs kopiert werden, die von professionellen Labels produziert wurden. Auch selbst gebrannte CDs, zum Beispiel vom Lehrerchor, der 1996 auf dem Schulfest in Bad Birnbach gesungen hat, müssen in den Bestand aufgenommen werden. Es arbeiten hier tatsächlich Leute, die das Internet gezielt nach diesen speziellen Veröffentlichungen durchforsten. Aber abgesehen von solchen Exoten - den Großteil der Musik gibt es ja schon überall digitalisiert. Auf iTunes, auf Spotify, auf Youtube, jetzt auch auf Aldi - sogar der Discounter bietet inzwischen einen Streaming-Dienst an. Warum also dieser Aufwand? Die Antwort ist simpel. „Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet“, sagt Matthes. Es ist Kulturgut - egal ob Dr. Alban oder Herbert von Karajan. Und die Musik wird auf diese Weise allen gratis zugänglich gemacht. Allen jedenfalls, die Musik in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig hören wollen.

Auch die selbst gebrannte CD vom Lehrerchor aus Bad Birnbach wird in den Bestand aufgenommen.

Eigentlich verwundert es nicht wirklich, dass Deutschland auch in diesem Bereich sehr penibel ist. Deutschland hortet Gold, lagert Ölreserven, bunkert Nahrungsmittel in geheimen Hallen - klar lagert die Bundesrepublik auch Musik. Die Sache mit den CDs hat allerdings einen Haken: Die Haltbarkeit der glänzenden Tonträger ist ziemlich eingeschränkt. Das liegt oft an den Materialien, die zum Pressen verwendet wurden. Aggressive Lacke der Aufdrucke fressen sich innerhalb weniger Jahre durch die ganze CD. Hunderte Stücke sind dem Archiv deshalb schon verloren gegangen. „Je nach Qualität des Produkts kann der Verfall schon nach ein paar Monaten beginnen“, sagt Matthes. Oder die Sache mit den CDs in Pappcovern. War vor zehn Jahren ziemlich chic, weil irgendwie ökologisch-bewusster - Musikkonsum und so - aus Sicht der Leipziger Digitalisierer aber ein schwerer Fehler. Weil: schlecht, ganz schlecht für die CD. Wegen der Dämpfe aus dem Kleber, mit denen die Pappe zusammenhält. Greift nämlich auch die Scheibe an. Es braucht eben Menschen, wie sie dort in Leipzig arbeiten. Menschen wie Matthias Matthes, die die Musik für die Ewigkeit bewahren. Und das geht eben nur, wenn man sie digitalisiert.

Matthes geht auf die andere Seite des Büros und setzt sich vor einen Computer. Über den Bildschirm laufen endlose Zahlenreihen, die Fehler auf den CDs anzeigen. Matthes kann sie lesen, als würde er nicht in Leipzig, sondern in der Matrix arbeiten. Findet er eine Abweichung, dann kommt die CD in ein anderes Laufwerk, zur Tonüberprüfung. Matthes setzt sich einen dicken Kopfhörer auf. Lange passiert nichts, er starrt konzentriert auf den Bildschirm. Dann plötzlich zuckt seine Wimper. Ein Fehler auf der CD. Er hört sich das Ganze noch mal an, über Lautsprecher. Italienischer Schlager dudelt durch das Büro. Damdidamdidamdidam. Und dazwischen: ein kurzes Klicken. Ein Fehler. Eindeutig. Matthes schraubt an ein paar Knöpfen - gleicht das Klicken mit einem anderen Computerprogramm wieder aus. Schließlich soll hier nur makelloses Liedgut in die Ewigkeit eingehen.

„Bei Musik wie der von Rammstein hört man solche Fehler allerdings nur schwer raus“, sagt Matthias Matthes. Und fügt schnell hinzu, dass das keine Kritik an der Band sei, sondern lediglich ein Erfahrungswert.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Bei aller Freude an der Genauigkeit plagt Matthes aber manchmal so ein dumpfes Gefühl. Matthes könnte lang und breit erzählen, dass die Qualität der CDs in den Achtzigern oft richtig mies war. Er kann über den Kopierschutz referieren, und wie man ihn knackt. Weiß er alles. Manchmal aber, da nervt ihn die Arbeit. Immer CD reinschieben, immer CD rausnehmen. Dazwischen das ewige Brummen des Automaten. „Ist schon oft monoton“, sagt er. „Und manchmal auch sehr langweilig.“

 

Und dann ist da noch diese Ohnmacht: Denn selbst das Digitalisieren reicht nicht aus, um die Vergänglichkeit auszutricksen. Die Langzeitarchivierung - so nennt man den Vorgang - hat nämlich ein grundsätzliches Problem. Niemand kann garantieren, dass Daten auf Festplatten länger als zehn Jahre halten. Im Falle des Musikarchivs werden daher alle gespeicherten Daten nach fünf Jahren auf neue Festplatten kopiert.

 

Das wissen sie in Leipzig - und das wissen sie vor allem im Leibniz-Rechenzentrum in Garching bei München. Hier gibt es eine Abteilung, die sich „Datenhaltung“ nennt, und dort machen sich Forscher über nichts anderes Gedanken als über die Sicherung digitalen Materials. In einer streng gesicherten und vor allerlei Katastrophen -geschützten Halle werden dort wissenschaftliche Daten aller Münchner Unis in einer gigantischen Menge gespeichert. Doktorarbeiten, Seminararbeiten, Bilder. Auch den kompletten Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek haben sie dort digital. 50 Petabyte sind das momentan. Zum Vergleich: Hätte man nur ein Petabyte Musik auf dem Handy, könnte es theoretisch 2000 Jahre am Stück durchspielen.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Doch auch in Garching müssen sie die Daten alle fünf bis sieben Jahre umheben. Zum einen, weil das Speichermaterial einfach nicht mehr hergibt. Dort wird auf speziellen Magnetbändern gespeichert, die sind effektiver als konventionelle Festplatten. Aber noch aus einem zweiten Grund. Arndt Bode ist Leiter des Zentrums, er sagt: „Niemand weiß, ob es in ein paar Jahren zum Beispiel noch DOC-Dateien gibt. Beziehungsweise eine Software, die diese Dateien lesen könnte.“ Siehe Disketten. Dafür haben Computer ja schon seit Jahren keine Laufwerke mehr. Mit der Umspeicherung nach ein paar Jahren bleibe man laut Bode auf dem aktuellen Stand der Lesetechnik. Sonst gehe es einem am Schluss noch so wie der NASA. Die hat in den Neunzigern nämlich versucht, alte Daten einer Saturnsonde auszuwerten. Dann aber leider schnell festgestellt, dass sie gar nicht mehr über die Geräte verfügte, die man dazu gebraucht hätte.

Selbst das Digitalisieren reicht nicht aus, um die Vergänglichkeit auszutricksen.

Zurück im Musikarchiv in Leipzig. Auch wenn sie hier beim Digitalisieren die gleichen Probleme haben - es gibt ja noch die Originale. Die CDs selbst lagern in einem fußballfeldgroßen Trakt. Nur mit einer speziellen Chipkarte kommt man dort rein. Das ganze Jahr über herrschen dort konstante 15 Grad Celsius. Luftfeuchtigkeit: zwischen 35 und 40 Prozent. Matthes schlendert durch die schier endlosen Regalreihen, schaut prüfend links und rechts, streift sanft mit der Hand über eines der Regale. Dort findet man nicht nur ein ideales Klima - sondern auch eine seltsam schöne Harmonie. Bob Dylan steht hier neben Céline Dion, CDs stehen neben Minidiscs. Auch für die Irrwege der Musikindustrie ist in Leipzig Platz.

 

Renitenz und Ignoranz hingegen mögen sie hier im Archiv gar nicht. Matthes erzählt eine Anekdote. Ein Musikverlag weigerte sich vor Kurzem, seine CDs zu den Archivaren zu schicken. Das Archiv zwang den Verlag per richterlichem Beschluss. „Der Verleger war so sauer, dass er eines Tages eine komplett vollgepackte Europalette vor unsere Tür stellte. Höchstpersönlich. 6000 CDs.“

 

Ein paar Jahre wird Matthes den Job noch machen. Mindestens aber bis 2016. Dann haben sie in Leipzig alle Altbestände umkopiert - und können sich auf die Neuerscheinungen konzentrieren. Denn auch wenn weit weniger Menschen als noch vor zehn Jahren CDs kaufen, die allermeisten Lieder kommen immer noch, neben anderen Tonträgern, auf diese Weise auf den Markt.

 

Bei den Hunderttausenden von CDs, von Kleinoden, die hier herumstehen - was hört Matthes, der Hüter dieses Schatzes, eigentlich gern privat? „Radio“, sagt er.

 

 

 

*In einer früheren Version des Artikels war die Rede von der Digitalisierung der CDs. Das ist nicht ganz richtig, denn die Daten auf einer CD sind natürlich schon digital vorhanden. Es handelt sich also eher um ein Umspeichern. Vielen Dank für den Hinweis.

 

 

Text: patrick-wehner - Fotos: Kathrin Tschirner

  • teilen
  • schließen