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Erzählen zählt

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Bald ist es so weit. Bald verreise ich zum ersten Mal alleine. Das habe ich bisher nie gemacht. Nicht etwa, weil ich Angst habe, alleine überfallen zu werden oder mich zu verirren. Vor allem will ich nicht alleine reisen, weil ich immer zu irgendjemandem „Das ist aber schön!“ sagen muss, wenn etwas schön ist. Ich kann etwas Schönes nämlich erst dann wirklich schön finden, wenn ich es jemandem mitteile.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

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Ich bin eine Kommunikationsmaschine. Ich muss mich dauernd äußern. Manchmal macht mich das wahnsinnig, manchmal will ich mir selbst den Mund verbieten, die Klappe halten, einfach mal still sein. Still genießen oder meinetwegen auch still leiden, je nachdem, was gerade ansteht. Ich habe eigentlich gelernt, dass das der richtige Weg ist. Denn als Kind habe ich viel geplappert, ich wurde dafür von den Erwachsenen oft verspottet oder mit Sätzen wie „Wenn der Kuchen redet, haben die Krümel Sendepause!“ um Ruhe gebeten. Schweigen, das schien eine Tugend zu sein. Die ich bis heute nicht beherrsche. Stattdessen weiß immer irgendwer, wie es mir geht, was mich bewegt, was ich gemacht habe. Ich muss es erzählen, damit es real wird und damit ich es begreifen und einordnen kann. Als nähme es Gestalt an, indem ich es ausspreche, als bekäme es eine Textur und ich könnte es befühlen und wüsste dann, was ich davon zu halten habe – ob es weich, hart, rau, glatt, kalt, warm, schwer oder leicht ist. „Erzählen bedeutet, Dinge in den Griff zu bekommen“, das hat die kluge Autorin Katharina Hartwell mal gesagt. Ich glaube, sie hat Recht.

Wenn ich mich umschaue, dann glaube ich auch: Ich bin damit nicht alleine. Etwas erzählen, das ist ein Ding meiner Generation. Zum Glück – zumindest zu meinem – hält sie nichts mehr von Schweigen als Tugend. Was früher Besitz war oder Mobilität, das ist heute Kommunikation. Wir bauen keine Häuser mehr. Wir kaufen uns keine Autos. Wir haben Smartphones in der Tasche und leidlich teure Laptops auf dem Schoß. Nichts nutzen wir in unserem Alltag mehr als diese Geräte. Und was machen wir damit die meiste Zeit? Wir kommunizieren. Es macht für uns keinen Unterschied mehr, ob wir uns Face-to-Face oder elektronisch mitteilen. Hauptsache wir kommunizieren.

Wir schreiben unseren Freunden im Messenger, einzeln oder vielleicht sogar in einer Gruppe. Wir posten ein Foto auf Instagram, sei es der Abendhimmel, das Essen oder ein lustiges Verkehrsschild. Wir schreiben in den Facebook-Status, wie es uns geht, und zeigen auf Pinterest, was uns gefällt. Das alles sind Teile einer großen Erzählung und mit dieser Erzählung formen wir unsere Leben und uns selbst. Manchmal formen wir vielleicht auch nur die Wunschvorstellung unseres Lebens und von uns selbst, aber das macht nichts, denn in der Erzählung ist sie real und nimmt Gestalt an. 

Das Schlimmste, was wir einander sagen können, ist: „Ich möchte nicht darüber sprechen.“

Wir kommunizieren so viel, dass ältere Generationen darüber oft den Kopf schütteln. Sie verstehen das nicht. Sie finden, man müsse auch mal den Mund halten. Oder das Handy weglegen. Sich einfach nur tief in die Augen sehen. Oder in die Landschaft starren. Manchen wir manchmal auch. Aber dann machen wir noch ein Foto von der Landschaft, um unseren Blick mit anderen zu teilen.

Unser Lebensmotto hat ein Mann erfunden, der zwar zu einer älteren Generation gehört, aber als Schriftsteller ohne das Erzählen nicht sein konnte: Gabriel García Márquez. Er nannte seine Memoiren „Leben, um davon zu erzählen“. Ein Satz, den ich auf der Stirn tragen könnte, ebenso wie viele meiner Freunde. Denn wenn wir nicht erzählen, dann stimmt etwas nicht. Mit das Schlimmste, was wir einander sagen können, ist: „Ich möchte nicht darüber sprechen.“ Das ist zum einen eine Absage an das Vertrauen, es bedeutet: „Ich möchte es nicht mit dir teilen.“ Zum anderen wird dadurch versucht, etwas aus der Welt zu schweigen. Nicht umsonst heißt es „totschweigen“. Was wir nicht aussprechen, hört auf zu existieren. Es verliert seine Gestalt.

Ich will nicht, dass all das Schöne, das ich auf meiner Reise sehen werde, seine Gestalt verliert, weil ich niemandem davon erzählen kann. Meine Freunde werden darum von mir hören. Ich werde mein Smartphone aus der Tasche ziehen und „Ich habe etwas so Schönes gesehen!“ schreiben. Und dann davon erzählen.

Text: nadja-schlueter - Illustration: Katharina Bitzl

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