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Eine Erweckungsszene wäre jetzt toll, gell? Einer von diesen in Zeitlupe ablaufenden Erkenntnismomenten mit Halleluja-Chören, in denen alles, was vorher neblig und nicht zu greifen war, eine bergseehafte Klarheit bekommt. Aber so war’s nicht. So etwas wie einen Erweckungsmoment gibt es im echten Leben nämlich nicht. Nie. Hollywood hat das erfunden, weil die Gedanken und Gefühle der Protagonisten nun mal irgendwie in Bilder übersetzt werden müssen. Deshalb das Brimborium mit den Engelsgesängen. In Wirklichkeit lässt sich die Bedeutung von Ereignissen nur im Rückblick ermessen. Alles andere rechnet unser Gehirn nachträglich in die Erinnerungen hinein. Behaupte ich jetzt jedenfalls mal.

Als eine Kassette (ja, damals bekam man Musik noch auf Tapes raubkopiert) mein Leben verändert hat, legte sich jedenfalls kein Slowmotion-Effekt über die Welt. Was vielleicht auch an mir lag. An meiner Überforderung. Ich hörte damals hauptsächlich die Erste Allgemeine Verunsicherung und den Song „Looking For Freedom“. In der Version von David Hasselhoff. Und auf der Kassette waren zwei der zehn wichtigsten Alben der Neunzigerjahre: „Check Your Head“ von den Beastie Boys und das selbstbetitelte Debüt von Rage Against The Machine. Wenn man die mit EAV-Sozialisation ohne Vorwarnung hört, dann ist das, wie mit grober Mau-Mau-Regelkunde Schach zu spielen. Engel hörst du da jedenfalls keine.  

Junkies haben schon recht: Wenn du mal das echte Zeug genommen hast, gehst du nicht mehr zurück zur Einstiegsdroge.

Das Tape hat Nicole mir aufgenommen. Nicole hat im Laden meiner Eltern gearbeitet, und ich kann nicht mal mehr sagen, ob ich Geburtstag hatte oder ob es einfach so war. Seltsamerweise erinnere ich mich aber sehr gut an den Satz, mit dem sie es mir gegeben hat: „Kannst ja mal schauen, ob dir das gefällt.“ Und wenn ich jemals einen Erziehungsberater schreiben sollte, ich würde ihn mit diesem Satz beginnen. Denn er war sehr klug, gerade weil er nicht klug sein wollte. Dazu aber gleich mehr. Zwölf oder 13 dürfte ich damals gewesen sein. Und es war Sommer. Wahrscheinlich der letzte, in dem noch manchmal richtig schlechte Musik bei mir lief.

Denn Junkies haben schon recht: Wenn du mal das echte Zeug genommen hast, gehst du nicht mehr zurück zur Einstiegsdroge. Und was für echtes Zeug das war, das ich da auf „Check Your Head“ plötzlich gehört habe: Drums, die klingen, als würde man mit einem dicken Metallrohr auf verschiedene Stellen einer Mülltonne eindreschen (auch in der Attitüde), Bässe wie Kettensägen in sehr trockenem Holz, heiser hingehustete Orgeln, Synthies wie ein Zahnarztbohrer, der ein paar Schichten Schmelz fräst. Dazu diese wahnwitzigen Raps, wie durch eine sämige Marihuanawolke gefiltert. Gigantisch! Ich habe in dieser Zeit gemerkt, was Musik eigentlich auslösen, welchen Humor sie haben und was für eine todernste Sache sie trotzdem sein kann.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Das weiß ich heute. Damals konnte ich das alles noch nicht erfassen. Intellektuell. Es hing ein paar Ebenen zu hoch. Aber irgendwie spürt man ja doch, wenn man große Kunst vor sich hat. Ich zumindest wurde von etwas erfasst, von einer Art Sog. Fern noch, nicht sehr stark – aber er gab eine Richtung vor. Und so wurde dieses Tape zu einem Nordstern meiner popkulturellen Orientierung. Zu einer im Hintergrund immer präsenten Referenz. Sie bewahrte mich davor, schlechte Musik aus Versehen gut zu finden, weil ich unterbewusst alles mit dieser Referenz abglich. Ich hatte gespürt, wie man Musik auch produzieren kann – ohne auch nur irgendeine Idee davon zu haben, was das heißt: produzieren.

Das schützt einen davor, Kay One oder Die Atzen für Rap zu halten. Man merkt, dass mit deutschen Pop- und vor allem Rock-Produktionen etwas noch nicht stimmen kann, wenn die Guano Apes das Äquivalent zu Rage Against The Machine sein sollen. Vielleicht fröstelt man auch etwas beim Gedanken, dass Die Toten Hosen manchmal immer noch als Punk gelten.

Möglicherweise kommt man aus alldem sogar zu der Erkenntnis, dass es so etwas wie ein absolutes, objektives „Gut“ in der Musik gibt – in der Kunst überhaupt? Eines, das sogar ein 13-Jähriger irgendwo tief drinnen empfindet, obwohl er bis dato mit Hasselhoff nach Freiheit gesucht hat. Vielleicht wäre mir das aber auch schon zu viel Pathos.

Etwas ganz anderes – und damit kommen wir wieder zu dem sehr klugen Satz von oben zurück – habe ich übrigens noch sehr viel später realisiert. Um ehrlich zu sein, war es vor fünf Absätzen: Ich habe mir wohl immer so etwas wie einen Mentor gewünscht. Jemanden, mit dem man – zum Beispiel jetzt – grundsätzliche Fragen zu Stil und Haltung diskutieren kann: Hip-Hop oder Rock? Hemd oder T-Shirt? Gauloises oder Marlboro? So Kram eben. Tatsächlich hatte ich ja einen Mentor. Der war nur so dezent, dass ich es nie gemerkt habe: „Kannst ja mal schauen, ob dir das gefällt.“ Wie groß das ist! Man sollte Kindern alles mit diesem Satz unterjubeln. Er bietet nämlich an, statt aufzudrängen. Er nimmt ernst, statt von oben herab zu behandeln. Er spricht einem eine selbständige Meinung und einen eigenen Geschmack zu.

Deshalb versteige ich mich jetzt auch nicht zu der These, dass alles anders gekommen wäre ohne dieses Tape. Dass ich womöglich nie Bands gegründet und nie größere Teile meines Lebensunterhaltes mit dem Schreiben über Musik verdient hätte. Die Anlagen waren vermutlich schon da. Wahrscheinlich wären sie auch so irgendwann rausgekommen. Aber Himmel: Viel schlechte Musik hätte ich bis dahin halt doch gehört. Laut und womöglich sogar öffentlich. Wer einen vor so etwas bewahrt hat, verdient Dank. Laut und womöglich sogar öffentlich. Also: Danke!

Text: jakob-biazza - Illustration: Katharina Bitzl

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