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Zurück ohne Zukunft

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Nachdem er es mit seinem Auto durch die morgendliche Rushhour von Kabul geschafft hat, ohne dass ihn irgendjemand merkwürdig angeschaut hat und es irgendwo auf dem Weg einen Anschlag gab, nachdem er die Sicherheitskontrolle an der Universität passiert hat und die Wachleute mit ihren Kalaschnikows und Pseudouniformen ihn zum tausendsten Mal nach seinem Ausweis gefragt haben, nachdem er den Klassenraum aufgeschlossen hat, der im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt ist, nachdem er die Studenten herein-gelassen hat - Jungs, von denen manche sich kleiden wie ein Schafhirte und manche wie John Travolta, Mädchen, die ihre Figur in beigefarbenen Tüchern verstecken oder sie
in Jeans und Stöckelschuhen betonen -, dann hat Khalil Ahmad Sarbas zehn Minuten, in denen er sich frei fühlt.


„Ich wollte, dass Afghanistan die Wiedergeburt gelingt“, sagt Khalil. Jetzt hat er Todesangst.


Der 29-Jährige unterrichtet Deutsch an der Universität Kabul. Und bevor es um den Konjunktiv oder intransitive Verben geht, spricht Sarbas jeden Morgen zehn Minuten lang mit seinen Studenten über Goethe, Nietzsche oder Grass. Über Kultur und -Werte - Dinge, die vielen jungen Menschen in Deutschland zum Hals raushängen. Hier in Afghanistan darf man darüber erst seit gut zehn Jahren frei sprechen.
Der Konjunktiv spielt nicht nur in Khalils Unterricht eine Rolle. Er ist auch in seinem Leben gerade ziemlich präsent. Denn Khalil könnte jetzt in Deutschland sein. 2011 hat er seinen Master in Deutsch als Fremdsprache in Jena gemacht. Danach hätte er ein Visum für ein Jahr bekommen können, das sich automatisch auf unbegrenzte Zeit verlängert hätte, wenn er in dieser Zeit einen Job hätte vorweisen können. Aber er wollte zurück. „Ich wollte das, was ich in Deutschland gelernt habe, nicht nur für mich behalten, sondern auch an andere weitergeben, vor allem an die junge Generation“, sagt er. Er wollte seinen „Beitrag dazu leisten, dass Afghanistan die Wiedergeburt gelingt“. Aber jetzt, wo ein Großteil der westlichen Truppen, auch der deutschen, das Land verlässt, beginnt er, seine Entscheidung zu bereuen. Er fühlt sich hier nicht mehr frei, eher wie in einem Gefängnis. Er hat Angst, Todesangst.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Khalil unterrichtet Deutsch an der Uni in Kabul. Dass er früher für die NATO und NGOs aus dem Westen gearbeitet hat, erzählt er lieber niemandem.

Der Afghanistan-Einsatz war einer der größten in der Geschichte der Nato und
der größte Auslandseinsatz der Bundeswehr überhaupt. Mit ihm sollten nach den Anschlägen am 11. September 2001 die Taliban vertrieben werden, die seit 1996 über das Land herrschten. Auf seinem Höhepunkt 2011 waren etwa 130 000 Soldaten aus
50 Ländern daran beteiligt, darunter 4900 deutsche. Der eigentliche Krieg war relativ schnell vorbei, fortan sollte es um „Nation Building“ gehen, den Aufbau des Landes. Und dazu sollten zahlreiche zivile und Nichtregierungsorganisationen aus den westlichen Ländern ihren Beitrag leisten. Doch das alles wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung Zehntausender afghanischer Mitarbeiter - Berater, Dolmetscher, Fahrer. Für die war ein Job bei einem westlichen Arbeitgeber ein toller Job. Gute und pünktliche -Bezahlung, finanzielle Sicherheit in einem Land, in dem die Arbeitslosigkeit zeitweise bei 40 Prozent lag.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Nun sind nur noch gut 12 000 Nato-Soldaten im Land, und die Taliban fühlen sich wieder stark genug, um sich zu rächen. Dabei machten sie keinen Unterschied zwischen Helfern der Nato, die sie als „Kreuzritter“ bezeichnen, und denen von zivilen Einrichtungen, sagt Khalil. „Wer mit Ausländern zusammenarbeitet oder gearbeitet hat, egal in welcher Form, gilt als Feind.“ Also auch -Khalil. Er hat viele Einrichtungen als Dolmetscher und Berater unterstützt. Jetzt fühlt er sich von diesen Einrichtungen im Stich gelassen. Die Papiere, die zeigen, dass er mit dem Westen zusammengearbeitet hat, hat er alle versteckt.

Im vergangen Jahr hat sich die Lage deutlich verschärft. Nach Angaben der UN-Mission in Afghanistan (Unama) wurden 2014 rund 3700 Zivilisten getötet und 6800 verletzt. So viele zivile Opfer wie nie zuvor seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2009. Fast jeden Tag gibt es einen Anschlag, immer häufiger gezielt auf zivile westliche Einrichtungen wie auf das französische Kulturzentrum in Kabul im Dezember 2014. Immer wieder werden Menschen entführt oder ermordet, die bei einer westlichen Einrichtung angestellt waren.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


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Illustration: Julia Schubert


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Auch Feroz (unten, auf dem Gelände der Uni) hat Angst vor den Taliban. Abends traut er sich nicht auf die Straßen Kabuls, nach der Arbeit fährt er sofort nach Hause.


„Ich fühle mich ständig bedroht, weil die Leute wissen, dass ich mit Ausländern zusammenarbeite“, sagt Khalil. Besonders -außer-
halb Kabuls sei es gefährlich. „Da kann man sehr schnell erhängt werden, solche Geschichten hört man ständig.“
Einer der wenigen, mit denen er über seine Situation sprechen kann, ist Feroz Ahmad Nuranfar, sein Kollege an der Uni Kabul. Beide studierten gemeinsam in Jena. „Man kann einfach keinem mehr trauen“, sagt Feroz. „Außer mit Khalil spreche ich mit niemandem über meine Arbeit. Auch bei meinen Freunden bin ich mir nicht sicher, ob die mich nicht verraten würden.“ Deshalb meidet er sie, schottet sich ab. Nach der Arbeit an der Uni fährt er in seine Wohnung etwas außerhalb Kabuls und verlässt sie meist nicht mehr. Er surft dann oft auf deutschen Internetseiten herum, stellt sich vor, wie es wäre, wenn er geblieben wäre.



Diese Frage beschäftigt ihn ständig. Er hat Depressionen, kann oft nicht schlafen. Die Familie, für viele -Afghanen der größte Rückhalt, lebt im Nordwesten des Landes, und ist damit fast unerreichbar. „Würde ich da als Mitarbeiter des Westens verdächtigt, würde ich alle in Gefahr bringen. Ich besuche meine Familie nur, wenn es absolut notwendig ist.“ Wenn das -Leben von Angst bestimmt ist, wird es auch schnell einsam und eintönig.



Es war ein britischer Komiker, der die Lage der afghanischen Helfer in den Diskurs brachte. In der Comedyshow „Last Week -Tonight“ des US-Bezahlsenders HBO deckte John Oliver im Herbst 2014 auf, dass es für afghanische Helfer der US-Truppen fast unmöglich ist, ein Visum für die USA zu bekommen, obwohl vielen eine wohlwollende Behandlung versprochen wurde. 80 Prozent der Anträge wurden abgelehnt, sie scheiterten meist an hohen bürokratischen Hürden, wie Oliver nachwies. Teilweise befanden sich 6000 Afghanen mitten im Genehmigungsprozess, auf welcher Stufe, konnten meist -weder sie noch die Behörden sagen. Das sind 6000 Menschen, die jeden Tag Angst haben und deshalb weg wollen, einfach nur weg aus diesem Land.


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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



In Deutschland sieht es etwas besser aus, doch auch hier wird afghanischen Mitarbeitern deutscher Stellen die Aufnahme mehrheitlich verwehrt. Das deckten gemeinsame Recherchen von NDR, WDR und -Süddeutscher Zeitung fast zeitgleich mit Oliver auf. Insgesamt gingen bis dahin nach An-gaben der Bundesregierung 1105 „Gefährdungsanzeigen“ afghanischer Mitarbeiter des Verteidigungs-, Innen-, Außen- und Entwicklungshilfeministeriums ein. Ablehnungsquote: 60 Prozent. Für die Antragsteller gibt es einen Kriterienkatalog. Nur wer das erste Kriterium erfüllt und nachweisen kann, wird in der Regel sofort ausgeflogen. Das Kriterium heißt „akute Bedrohung“. Das bedeutet: Die afghanischen Mitarbeiter müssen belegen, dass die Taliban es konkret auf sie abgesehen haben und bald zuschlagen wollen. Nur warnen die Taliban ihre Opfer selten mehrere Tage im Voraus.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Anschläge wie der Angriff auf diesen Lkw in der Nähe von Kabul sind immer noch allgegenwärtig in Afgha-nistan. 2014 war die Zahl ziviler Opfer höher als je zuvor seit Beginn der Zählungen. Deshalb, sagt Feroz, fühle sich auch kaum ein afghanischer Mitarbeiter westlicher Organisationen sicher.

Einer der größten zivilen deutschen Arbeitgeber in Afghanistan ist die zum Entwicklungsministerium gehörende Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Etwa 1600 von 1735 Mitarbeitern stammen aus Afghanistan. Deren Wissen und Engagement seien „von großer Bedeutung“, sagt GIZ-Sprecherin Anja Tomic. Für die GIZ selbst und „die Zukunft des Landes“. Würde einer der Mitarbeiter sich bedroht fühlen, nähmen Bundesregierung und GIZ ihre Fürsorgepflicht sehr ernst. „Wir versuchen für jeden Mitarbeiter, der sich -wegen einer Bedrohung an uns wendet, eine individuelle Lösung zu finden“, sagt Tomic. Zum Beispiel seien Mitarbeiter bereits in -anderen Distrikten des Landes oder in anderen Ländern eingesetzt worden. Außerdem könnten aktuelle und ehemalige Mitarbeiter eine „Gefährdungsanzeige mit dem Ziel einer Aufnahme in Deutschland“ stellen. Bisher hätten vier ehemalige Mitarbeiter Aufnahmezusagen für Deutschland bekommen, vier weitere Anzeigen befänden sich derzeit in
der Prüfung. Nur einer der aktuellen Mitarbeiter sei wegen einer akuten Bedrohung nach Deutschland ausgereist.

Nur wer eine akute Bedrohung nachweisen kann, wird ausgeflogen. Aber die Taliban warnen ihre Opfer nicht vor.

Einer von 1600? Für Feroz Nuranfar sagt die Zahl viel mehr über die Resignation seiner Landsleute aus als über deren tatsächliche Gefährdung. Er selbst hat nicht direkt für die GIZ gearbeitet. Er kennt aber viele, die dort einen festen Job haben. „Sicher fühlt sich eigentlich keiner von denen“, sagt er. Die meisten würden denken, dass eine Gefährdungsanzeige eh zu nichts führen würde.
Das tägliche Angstgefühl, nicht zu wissen, ob man lebend zurückkommt, wenn man das Haus verlässt, lasse sich nicht als „konkrete Bedrohung“ beschreiben. Sein eigener Eindruck der GIZ sei nicht gerade vertrauen-erweckend gewesen. Einmal habe er einen deutschen Professor zu einem Sicherheitsmeeting begleitet. Man sagte ihm, an wen er sich wenden solle, falls Probleme auftreten. „Mir haben sie da explizit gesagt, dass diese Schutzprogramme nicht für mich gelten, sondern nur für Afghanen, die einen deutschen Pass haben.“

Von der GIZ heißt es, dass in Sachen Sicherheit nicht zwischen nationalen und internationalen Mitarbeitern unterschieden würde.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Mittagspause: Khalil und Feroz holen sich in der Nähe der Uni etwas zu essen.


Solche Erfahrungen schmerzen Menschen wie Khalil und Feroz. Der Erfolg des Wiederaufbaus des Landes mag, vorsichtig gesagt, umstritten sein. Demokratisch, freiheitlich, sicher - all das ist Afghanistan auch heute nicht, nach 13 Jahren, Tausenden toten Soldaten und Zivilisten und vielen Milliarden Dollar und Euro. Aber Khalil, Feroz und viele andere ihrer Landsleute haben ihr Leben dafür riskiert, dass es vielleicht einmal so sein könnte. Und nun soll ihre Sicherheit nicht schützenswert sein, weil sie Afghanen und keine Deutschen sind? Weil sie, anstatt in Deutschland zu bleiben, nach Afghanistan zurückgekehrt sind?
Khalil und Feroz wollen ihre Heimat immer noch nicht verlassen, sie wollen bleiben, solange es geht. „Wir sind im Krieg zur Welt gekommen und aufgewachsen“, sagt Khalil. „Eine schöne Jugend mit all ihren Genüssen kenne ich nicht. Die nächste Generation aber soll ein sicheres und freies Leben führen.“ Daran will er arbeiten, und dafür wünscht er sich Unterstützung, auch aus Deutschland. „Stattdessen aber werden wir vergessen.“











Text: constantin-wißmann - Constantin Wißmann, Fotos: Joel van Houdt

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