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Die Keimzelle der Gemütlichkeit

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Drei nach Nachtigall zeigt die Singvogel-Uhr über dem Eingang an, was kurz nach achtzehn Uhr bedeutet. Freitagabend, alle Tische im Untergiesinger „Maibaumstüberl“ sind voll besetzt. Urig ist es hier, die Wände sind mit Bayernkitsch und Löwen-Devotionalien dekoriert. An einer ist ein Stück Jägerzaun befestigt. Zwischen den Streben lugen lauter Fotos von Kneipengästen hervor. Darunter sitzt eine Männerrunde und spielt Schafkopf. Die Gespräche sind laut, im Hintergrund dudelt fast unhörbar ein Radio.

Maximilian ist schon da, ich erkenne ihn sofort, denn er ist mit Abstand der Jüngste der anwesenden Herren. Er wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen und passt damit fast zu perfekt ins Interieur. Maximilian trägt Schnauzbart, seine Augen blitzen unter einer altmodischen Mütze hervor. Seine dunkle Stoffhose wird von Hosenträgern gehalten. Maximilian ist 24 Jahre alt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Maximilian Bildhauer bei der Feldforschung: Für seine Bachelorarbeit hat der Kommunikationsdesignstudent die Boazn und Stüberl Giesings getestet und einen Kneipenführer gestaltet. Maximilian ist in Giesing geboren und aufgewachsen. Jede Boazn, die mit der Aufwertung des Viertels verschwindet, macht ihn traurig.

Er nimmt mich heute mit auf eine kleine Boazn-Tour durch Untergiesing. Es ist seine Welt, Maximilian ist hier geboren und aufgewachsen und mit dem Herzen wohl auch immer hier geblieben. Weil er die schummrigen Kneipen des Viertels so liebt, hat er gerade einen Boazn-Führer für Giesing geschrieben. Für mich ist das eine fremde Welt. Mich zieht es da nicht hin. Ich mag ja nicht mal Bier. Und ein bisschen unheimlich sind mir die Boazn auch.

   Wann hast du dich das erste Mal in so eine Kneipe reingetraut?
   Mit 17. Zusammen mit Freunden. Uns hat damals auch genau dieses Verruchte, Düstere an den Boazn gereizt.
   War es so verrucht, wie ihr dachtet?
   Es passieren schon manchmal Dinge, die man in Szenebars nicht erlebt. Einmal haben wir jemanden kennengelernt, so eine ältere Herrschaft. Der hat einen sehr teuren Whiskey ausgegeben. Aus Versehen hat jemand was von dem Whiskey verschüttet. Da hat er dann seinen Pimmel ausgepackt und einmal durch die Lache durchgewischt und gesagt: Verschwendet wird hier nix!
   Fühlst du dich in einer Boazn wohler als in Kneipen wie der Favoritbar?
   Du wirst hier nicht von oben bis unten gemustert. Jeder ist einfach nur Mensch und kann so sein, wie er will. Ich hab vom Akademiker über den einfachen Arbeiter bis zur Prostituierten schon fast jeden in einer Boazn getroffen.
   Das klingt jetzt sehr sozialromantisch.
   Das ist ja auch romantisch!

Frauen scheint sich der romantische Charme des „Maibaumstüberls“ nicht zu erschließen. Außer den beiden Damen hinter dem Tresen bin ich die einzige Frau hier. Still spülen die beiden Gläser und nehmen Getränkebestellungen auf. Die Stimmung sei etwas gedrückt, meint Maximilian. Wirt Erich sei vor kurzem gestorben. Wir bestellen auch noch etwas zu essen, Braumeisterschnitzel mit Bratkartoffeln, das sei hier sehr gut, sagt Maximilian. Er muss es wissen.

   Du hast für deinen Führer 42 Boazn getestet. Wie liefen die Tests ab?
   In jeder Boazn war ich mindestens einmal für ein paar Stunden. In jeder habe ich ein paar Bier getrunken. Meistens auch einen Schnaps. Und wenn es etwas zu essen gab, hab ich auch was gegessen. 
   Wie lange hat das gedauert, bis du alle Boazn getestet hattest?
   Zwei Monate. Ich war ja noch in ein paar mehr Läden, die haben sich dann aber als Fake-Boazn herausgestellt. Das waren eher so türkische Teestuben.
   Wie hat denn deine Leber die zwei Monate verkraftet?
   Ich hab in der Zeit sechs Kilo zugenommen. Aber meine Leber hat das gut verkraftet.

Maximilian muss mal. Kaum ist er aufgestanden, stellt sich ein Mann mit einem für seinen Bauch etwa zwei Nummern zu klein gewählten Pullover neben mich an den Tresen. Ich bekomme Gesellschaft! Ich proste mit meinem Spezi rechts rüber.

   Mann: Zum Wohl!
   Zum Wohl!
   Ach, Sie sprechen Deutsch!
   Ja!
   Ich hatte gedacht, Sie seien Französin! Ich hatte mich schon gefreut, dass wir jetzt Französisch oder Englisch miteinander sprechen könnten!
   Können wir auch. Aber ich spreche meistens Deutsch.
   Schaaade! (dann, ein bisschen argwöhnisch) Das ist ja Hochdeutsch!
   Ja, ich bin nicht aus Bayern.
  Aus Hilden?
  Nee, aus Münster.
  Ah ja. Schöne Stadt! Ich kenn da zwei, drei Leute. Da war ich vor sechs, sieben Jahren, und da haben wir Party gemacht. Drei Tage lang.

Ich habe schon lange kein Gespräch mehr geführt, bei dem mich mein Gegenüber mit fast jeder Antwort überrascht. Das könnte spannend werden, denke ich, doch mein Tresennachbar versenkt seinen Blick in seinem Bierglas, als Maximilian zurückkommt.

   Hast du schon wen kennen gelernt?
   Ja.
   Siehste, geht ganz einfach. Als Mädel sowieso. Mädels sind die Königinnen in der Boazn! Die bekommen Komplimente und Schnäpse ohne Ende.

Bomm. Bomm. Bomm.

   Manchmal ist einem so viel Aufmerksamkeit ja auch unangenehm!
   Da muss man halt resolut genug sein.

Bomm. Bomm. Bomm. Sehr resolut wird in der Küche auf unser Schnitzel eingeklopft.

Ach, sagt Maximilian, blöd angemacht werden kann man überall. Die Schafkopfrunde ist aufgebrochen, die Gespräche sind leiser geworden. Radio Arabella bildet das neue Grundrauschen.

   In jeder Boazn läuft Radio Arabella. Das ist ein guter Mix. Da kann jeder was mit anfangen. Ich höre inzwischen sogar zu Hause manchmal Radio Arabella.

Unser Schnitzel ist fertig. Es schmeckt tatsächlich sehr gut. Wir sind die Einzigen, die hier etwas essen und mit Abstand die jüngsten Gäste im Maibaumstüberl. Angenehmerweise interessiert das niemanden. Es passiert aber auch sonst nicht mehr viel. Maximilian sagt, wir müssen noch rüber ins Grandauer Fassl. Wirt Dieter sei der Wahnsinn.

Als wir das Fassl betreten, erwartet uns ein Mann wie eine windschiefe Eiche, mit einem Schnäuzer, noch imposanter als Maximilans, und getönten Brillengläsern. Seine Zigarette hat Dieter mit einem kurzen, silbernen Zigarettenhalter platziert. Es ist nur ein anderer Gast da, er steht direkt neben Dieter am Tresen. Vor ihm steht ein Reserviert-Schild.

   Wird es hier manchmal voll?
   Nee, eigentlich nie. Der Dieter will nur nicht, dass sich ein Idiot an den Platz neben ihm stellt. Der Dieter will sich ja auch nicht mit ’nem Idioten unterhalten.

Wir ordern Getränke. Auf Maximilians Rat wähle ich ein Rüscherl. Das ist eine Art Damengedeck, Cola und Schnaps, im Kristallglas serviert. Maximilian bleibt beim Bier.

   Irgendwas riecht hier komisch.

Ein Geruch nach fauligen Eiern wabert vom Tresen rüber. Dieter ist unbeeindruckt und murmelt etwas Bayerisches in seinen Bart, das ich nicht verstehe. „Unter uns“ und „lässt sich nicht ändern“ kommen jedenfalls darin vor. Dieter schüttet einen Eimer Wasser in das Spülbecken. Offenbar ist der Abfluss die Quelle des Geruchs.

   Maximilian, wenn ich das nächste Mal in eine Boazn gehe, weiß ich, was ich bestellen sollte. Und ich weiß, was mich ungefähr für Leute erwarten. Kann ich noch was falsch machen?
   Das Schlimmste, was du machen kannst, ist, mit irgendwelchen Erwartungen hinzugehen.

Draußen beginnt es zu dämmern, drinnen ist es dunkel und es läuft Falco. Es ist erst Tagesschau-Zeit, aber es fühlt sich an, als ob die Nacht schon zu Ende ginge. Dieter und der Gast vorm Reserviert-Schild brummen sich manchmal ein paar Worte zu. Unsere Gläser sind leer. Der Schwefel-Geruch ist noch da. Vielleicht wird Dieter später noch eine Mix-CD auflegen. Die seien großartig, sagt Maximilian. Wir gehen.

Maximilians Kneipenführer „Munich Boazn: Giesing“ erscheint im Sommer im Volk Verlag.

Text: juliane-frisse - Foto: Michael Berger

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