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Alten Resten eine Chance - der Super-Markt "Haldi 2000" in München

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„Matthias an die Kasse bitte“, rauscht eine Stimme durch den Lautsprecher. Ein Mann in weißem Filialleiter-Kittel springt auf und eilt herbei, um den Preis nicht korrekt ausgezeichneter Ware durchzugeben. 1,43 Euro kostet das Hirnband, ein Accessoire aus gefärbten Mullbinden, das man in keinem gewöhnlichen Supermarkt kaufen kann, sondern nur diese Woche im Haldi 2000 genannten Kunstmarkt von Filialleiter Matthias in Giesing.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Ich habe mich viel von menschlichen Körperteilen und Verletzungen inspirieren lassen“, sagt die Hirnband-Erfinderin Steffi Müller. Sie hat in ihrem Regal außerdem noch ein Stück „frisches Hüftsteak“, genäht aus einem roten Stück Unterwäsche, für 23 Euro im Angebot. Der „Kreuzbandriss“ ist leider schon ausverkauft. „Es ist schön, meine Modelle heute wieder auszupacken und den Leuten noch mal zu zeigen“, sagt die Hobby-Schneiderin, die ebenfalls einen Supermarktkittel mit Namensschild trägt. Christian Schmidbauer hantiert ein paar Meter weiter mit Comicheften, die er selbst geschriebenen und illustriert hat. Er hat Grafikdesign studiert und entwarf „Kauboi und Kaktus“, ein freundliches Skelett, das gemeinsam mit Geselle „Kaktus“ Abenteuer zu bestehen hat. „Erst gab es nur das Skelett, aber das allein wäre ja ein bisschen deprimierend gewesen“, lacht Christian. Deprimierend könnte auch der Hintergrund von „Haldi 2000“ sein, denn laut Organisationsteam soll der Super-Markt Perlen künstlerischen Schaffens vor dem Aus auf der Müllhalde bewahren. Alle Supermarktangestellten sind freischaffende Künstler, die mit ihren Werken nicht den kommerziellen Erfolg hatten, den sie sich vielleicht erträumten. An mangelnder Qualität lags nicht, darüber ist man sich bei „Haldi 2000“ einig; eher an mangelnder Vermarktungslust, Streit innerhalb einer Künstlergruppe oder an Selbstüberschätzung. Beim Bestellen von dreitausend Release CDs etwa, obwohl nur dreihundert verkauft wurden. Eigentlich eine triste Angelegenheit, aber die Künstler beweisen Humor: „Wir leben ja zum Glück nicht davon“, sagt Filialleiter Matthias Weinzierl, der mit seinem Label „Bodensatz“ anwesend ist. „Aber es wäre doch schade, wenn all die Dinge, die mit so viel Herz gemacht wurden, im Keller verstauben, oder eben auf dem Müll landen.“ Das findet auch Aimée. Die 18-jährige hat soeben ein „Tante Emma Haarband“ aus Steffi Müllers Kollektion „ragtreasure“ erstanden. „Kunst ist wichtig. Ich spiele selbst Theater“, erzählt die Schülerin. „Das hat aber den Vorteil, dass nach der Vorstellung keine Reste übrig bleiben, die man nicht übers Herz bringt, wegzuwerfen.“ Für alle sonstigen Kunstreste gibt es das „Haldi 2000“. Die Idee entstand am Karfreitag dieses Jahres, als ein befreundeter Musiker Matthias Weinzierl erzählte, er wolle versuchen, seine verstaubenden Platten in einen Musikladen zu schmuggeln. Er hoffte, dass sie dort endlich jemand kaufe und er so den schmerzlichen Gang zur Mülltonne vermeiden könne.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Um Künstlern in einem ähnlichen Dilemma zu helfen, rief Weinzierl das Projekt in der Färberei in Giesing ins Leben. Dort wurde ein Raum des Kreisjugendrings zum Supermarkt umgestaltet, die Wände gestrichen, Regale und eine etwas altertümliche Kasse aufgebaut. Diese Persiflage steht im ironischen Gegensatz zu dem Anspruch der meisten hier, die nicht-kommerzielle Kunst machen wollen. Heute aber soll das anders sein. Heute soll es einmal nur darum gehen, die geschätzten „Perlen der Kunst“ noch einmal vorzuführen und für einen fairen Preis einem Käufer zu überlassen. Bei den Perlen handelt es sich um CDs und Platten lokaler Bands mit selbstgestaltetem Cover; Magazine, die dem Leser den Rassismus, ihre Nachbarn und Bayern erklären oder auf sehr direkte Weise das menschliche Ausscheidungsorgan thematisieren – für je 99 Cent. Ein anderes Regal beherbergt Bücher des Münchner Verlags „Black Ink“. Das Es sind kleine Geschichten verschiedener Autoren, ein Gedichtband über die Autobahn A8 beispielsweise, sogar Noten für die „Gardasee Suite“ von Pádraic Finn. An einer Stange baumeln auseinandergenommene und auf originelle Art wieder zusammengenähte Kleidungsstücke. Dann eine Gipszwergparade, farbig besprühtes Obst, ein Notebook aus Pappe, Kleinkram und Nippes. Zudem wird der anspruchsvolle Kunde gut unterhalten: es gibt Autorenlesungen, kleine Konzerte und schräge Fleisch-Performances: Die Weißwurst-Operation zum Beispiel, bei der Künstler M. Krecji in einem komplizierten Eingriff kleine Kopfhörer transplantiert – hinter die Wursthaut, versteht sich. Zu sehen übrigens noch einmal am Samstag, 18.Oktober, um 15 Uhr. Dass dies durchaus ein Grund zum Feiern ist, zeigen die heiteren Gesichter der Besucher und Veranstalter, die sich an den Warenregalen entlang schieben, Sekt trinkend oder selbstgebackenen Kuchen essend, aus Rosis und Marias „Café Creme“ gleich nebenan. Als dann irgendwann noch eine Figur namens „Haldi“ in Lebensgröße auftaucht (eine rote Müllhalde aus Schaumstoff), wird klar, dass das Projekt einen liebenswert kultigen Mittelweg gefunden hat zwischen dem Eigentlich-Loswerden-Wollen und dem endgültigen Verramschen. Umso erfreulicher, dass beim Verlassen des Marktes ein Blick ins Fleischregal zeigt, dass jetzt auch Hüftsteak und Hirnband ausverkauft sind. Der Supermarkt „Haldi 2000“ ist noch bist 18. Oktober in der Färberei geöffnet. Claude-Lorrain-Straße 25, Nähe U-Bahn Kolumbusplatz

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