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Andi muss seine Freundin sehr gern gehabt haben

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1. Die gefährlichen Mädchen

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich machte meinen Fund an einem trägen Herbstnachmittag vor zehn Jahren. Während ich auf dem Heimweg von der Schule über den Bürgersteig trottete, blieb mein Blick plötzlich im Straßengraben hängen: Was leuchtete da so bunt? Ich erkannte einen Obstkarton, aus dem bunte Schulhefte und Collegeblöcke quollen. Ich zog ein grünes Heft heraus und schlug es auf. „Liebe Mona, ich halts nicht mehr aus, bin gestern Nacht nach Stuttgart abgehauen, aber die Polizei hat mich am Bahnhof gefickt, die bringen mich jetzt wieder zurück ins Heim.“ Einige Seiten später antwortete Mona: „Kati, Süße, mach dir keine Sorgen, wir kriegen dich schon wieder hin. Waren gestern wieder im Tengelmann zocken, aber diesmal waren wir wohl zu viele, die haben’s gemerkt. Hausverbot. Scheiße.“ Ich konnte nicht glauben, was ich da gefunden hatte. Die Hefte waren anscheinend eine Art Tagebuch von zwei Freundinnen. Die Aufzeichnungen erinnerten mich an ein Buch, das ich gelesen hatte: ein Briefwechsel zweier Mädchen aus verschiedenen Jugendgefängnissen. Mich als zwölfjähriges, wohlbehütetes Familienkind hatte das völlig umgehauen. Und jetzt das hier – diese Aufzeichnungen waren echt. Ich schleppte den Karton eilig nach Hause und rief meine beste Freundin an. Wir lasen uns gemeinsam durch die Briefe wie durch einen spannenden Krimi. Schnell war klar, dass die Hefte nur aus dem Mädchenheim stammen konnten, neben dem ich wohnte. Hier auf dem Teppich meines Kinderzimmers lag nun der Einblick in die intimsten Gedanken der Mädchen. Geschichten von Gewalt, Sex, Drogen und Diebstahl. Wir versuchten das, was wir erfuhren, zu einem Bild zusammenzufügen. Wo Lücken klafften, dachten wir uns etwas aus und kurze Zeit später hatten wir zwei hochdramatische Lebensläufe von Mona und Kati zusammenfantasiert. Aber was sollten wir mit den Heften anstellen? Auf einmal schämten wir uns. Wir schickten einen diffusen Dank ins Universum, dass wir nicht so schlimme Sachen erleben mussten und schoben den Karton in die hinterste Ecke meines Kleiderschranks. Vermutlich ist er im Laufe der Zeit auf dem Müll gelandet. Zu gerne würde ich wissen, wer Mona und Kati wirklich sind, warum sie den Karton damals weggeworfen haben und was sie heute treiben. Ich hoffe, es geht ihnen gut. Mercedes Lauenstein *** 2. Die geheimnisvolle Julia

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Name: Julia. So stand es auf der Seite für „persönliche Daten“. Und zwar in dem kleinen, schwarzen Büchlein, das vor den verdreckten Treppenstufen einer Kickerkneipe auf dem Bürgersteig gelegen hatte. Julia hatte dieses Büchlein offensichtlich verloren, dummerweise aber weder Nachnamen noch Adresse oder Telefonnummer eingetragen. Nur: Julia. Mit schwarzer Tinte und in schöner, schwungvoller Mädchenhandschrift. Es war ein Notizbuch ohne Notizen. Ein Tagebuch ohne eine einzige persönliche Zeile. Stattdessen hatte Julia sich die Mühe gemacht, unzählige Fotos und Bilder in das Büchlein zu kleben. Ich vermute, Julia war das sportliche Mädchen mit den grünen Augen. Die Blonde, die in unterschiedlichen Konstellationen mit anderen Personen auf den meisten Fotos zu sehen ist. Anfang zwanzig, wahrscheinlich gerade zum Studieren nach Berlin gezogen. Germanistik oder Kulturwissenschaften. Manchmal lächelt sie zufrieden im Arm einer Freundin. Auf einigen Schnappschüssen sieht man sie sogar lauthals lachen. Und ich stelle mir vor, wie dieses Lachen wohl klingen mag. Julia scheint ein geselliger Mensch zu sein, ist selten alleine abgebildet. Nur einmal sitzt sie mit konzentriertem Blick an der Gitarre und spielt vermutlich etwas sehr ernstes. Vielleicht was von Dylan. Oder „Under The Bridge“ von den Chili Peppers. Leider ist es mir nie gelungen, Julia ausfindig zu machen. Dabei bin ich noch lange nach dem Fund mit offenen Augen durch die Straßen gegangen und habe Ausschau nach ihr gehalten – das Büchlein in meiner Tasche, ihr Bild in meinem Kopf. Obwohl ich das Notizbuch mittlerweile nicht mehr mit mir herumtrage, denke ich noch ab und zu an Julia, und wie es ihr wohl gehen mag. Was sie wohl damals auf der Gitarre gespielt hat? Daniel Schieferdecker *** 3. Die liebste Brizzelmaus

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Als Studentin habe ich einiges in Büchern gefunden. Hauptsächlich, weil ich damals Flohmarktbücher bei Amazon weiterverkaufte und davor deren Zustand beurteilen musste. Beim prüfenden Blättern und Schütteln stieß ich oft auf Spuren der Vorbesitzer: Adressstempel, Notizen, Widmungen. Manchmal war auch ein Zettel im Buch oder eine Postkarte. Das meiste war unspektakulär. An ein Foto erinnere ich mich aber genau. Es steckte in einem Kochbuch und war seltsam: Ein dünner Mann und eine Frau mit Dauerwelle stehen nebeneinander vor einem Regal. Er ist als Huhn verkleidet, sie hält einen Teller Mohrenköpfe in der Hand. „Normaler Fasching“, könnte man meinen, doch die Frau blickt todernst in die Kamera. Irgendwie war ich alarmiert, als ich das Foto sah. Ich wollte wissen, was los ist. Geht es ihr nicht gut? Spinnt der Huhn-Mann? Natürlich bin ich nie dahintergekommen. Das Foto ging bei einem Umzug verloren. Etwas anderes aber habe ich nicht verloren, sondern verkauft. Heute ärgert es mich, dass ich die 49,90 Euro für die Memoiren von Pam Des Barres haben musste. Es war nämlich die schönste Widmung drin, die ich kenne. „Liebste Brizzelmaus“ schrieb ein Andi da, „danke für das letzte Jahr“. Dann hoffte er, dass noch viele Jahre kommen mögen und schrieb nette Dinge über die Brizzelmaus. Dazu malte er grinsende Mäuse, die Rad fuhren oder Birnen aßen. Eine Maus biss in eine Lichterkette und hatte aufgestelltes Fell. Andi muss seine Freundin sehr gern gehabt haben. Therese Meitinger *** 4. Die Wohnung mit Elvis drin

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Meine erste Wohnung war billig, hatte aber keine Toilette. Ich teilte mir mit zwei weiteren Hausbewohnern ein Außenklo, das ein Stockwerk tiefer lag. Eigentlich kein Problem, nur in einer Winternacht wurde es schwierig. Ich wachte auf und musste mal raus. Ruckzuck tippelte ich in Boxershorts durch das unbeheizte Treppenhaus und merkte auf dem Rückweg, dass ich die Tür zugezogen und keinen Schlüssel mitgenommen hatte. Ich fing an, um Hilfe zu klingeln. Manche machten mir sogar auf, drückten die Tür jedoch bei meinem Anblick schnell wieder zu. Ich war verloren – bis ich zum Klingelschild mit der Aufschrift „Dreher“ kam. Eine ältere Dame sperrte nur einen Spalt weit auf und hielt dabei schützend ein Foto-Kissen von Elvis Presley vor sich. Frau Dreher hörte sich meine Geschichte an. „Momentchen“, sagte sie und kam kurz darauf, einen Elvis-Bademantel übergeworfen, mit einem Dietrich zurück. Sie öffnete mir die Wohnungstür – und die Augen in Sachen Elvis Presley. Denn als Gegenleistung für ihren Einsatz bestand Frau Dreher darauf, mir ihre Teller-, Poster-, Plastikfiguren- und vor allem ihre Plattensammlung vom King zu zeigen. Morgens früh um drei saß ich zwischen schwarzen Schmalztollen in allen Formen und ließ mich zum ersten Mal auf den Soundtrack dieser anderen Zeit und Welt ein. Frau Dreher lächelte. Sie spürte, was ich in dem Moment kaum glauben wollte: Ich liebte diese Rock ’n’ Roll-Schnulzen! Und ich kam Frau Drehers Einladung nach, regelmäßig bei ihr vorbeizuschauen. Zum Teetrinken und „Heartbreak Hotel“-Hören. Bald besorgte ich mir eigene Elvis-Alben, eine Spiegelbrille und einen Kaffeepott mit der Silhouette vom Mann aus Memphis. Der genießt bei mir bis heute einen Heldenstatus. Genau wie die liebe Omi mit dem Allesöffner. Erik Brandt-Höge

Text: jetzt-Redaktion - Illustrationen: Alper Özer

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