Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

"Da läuft was schief"

Teile diesen Beitrag mit Anderen:


Die unabhängige Initiative 'Teach First' vermittelt hochbegabte Hochschulabsolventen an Schulen in sozialen Brennpunkten. Dort sollen die sogenannten 'Fellows' Lehrpersonal unterstützen, Schüler individuell fördern und Zusatzprogramme anbieten. Die 27-jährige Kulturwissenschaftlerin Martina Böttcher arbeitete zwei Jahre an einer Gesamtschule in Essen. Mit jetzt.de hat sie über ihren Einsatz gesprochen.



jetzt.de: Martina, wie war der erste Tag an der Schule?
Martina: Am ersten Tag war ich natürlich total aufgeregt. Ich begleitete zwei Lehrer, schaute mir ihren Unterricht an und überlegte, wie ich mich einbringen kann.

jetzt.de: Welche Aufgaben hattest du?
Martina: An meiner Schule gibt es tausend Baustellen - eigentlich wird überall Verstärkung gebraucht. Zum Beispiel fiel mir auf, dass in der 10. Klasse, aber auch in der Oberstufe Unterstützung beim Bewerbungstraining nötig war. Die Lehrer halfen den Schülern vorwiegend in Freistunden und nachmittags. Ich hatte ja wesentlich mehr Kapazitäten. Vorwiegend nutzte ich meine Zeit deshalb dafür, als zusätzliche Lehrkraft im Unterricht dabei zu sein, Kleingruppen zu fördern und AGs zu leiten.

jetzt.de: 'Teach First' schickt Hochschulabsolventen an Schulen in sozialen Brennpunkten. Welche Sorgen gab es an deiner Schule?
Martina: Die Herausforderungen, mit denen die Lehrer zu kämpfen haben, hängen mit der Größe der Schule und der Klassen zusammen: Es gibt knapp 1600 Schüler, circa 60 Prozent haben einen Migrationshintergrund, viele leben unterhalb der Armutsgrenze. Vergangenen Winter sah ich Mädchen, die trotz des Schnees Ballerinas trugen. Vielen Schülern fehlt im Unterricht auch die nötige Ruhe, weil sie sich zu Hause mit mehreren Geschwistern ein Zimmer teilen müssen, weil sie zu viel fernsehen oder nicht mit klaren Regeln vertraut sind. Da sind dann Klassen mit 28 Schülern einfach zu groß.

jetzt.de: Hast du einige dieser Probleme gelöst?
Martina: Wir 'Fellows' können natürlich nicht die Eltern ersetzen oder ein tolles Projekt nach dem anderen reißen. Aber wir können kleine Probleme lösen: Allein durch meine Anwesenheit konnte ich neue Impulse geben oder zwischen Lehrern und Schülern vermitteln. An meiner Schule muss man immer hinterher sein und unzuverlässigen Schülern regelrecht hinterher telefonieren. Das kostet viel Zeit, die die Lehrer nicht haben. Zu zweit geht vieles besser - Klassenfahrten, die Nutzung des PC-Raums oder ein gemeinsames Grillen organisieren zum Beispiel.

jetzt.de: Gab es Momente, in denen du frustriert warst?
Martina: Schwierige Momente gab es immer wieder. Es gibt eben Schüler, die genau wissen, welchen Knopf sie drücken müssen, damit man wütend wird. Da fühlte ich mich schon manchmal soweit aus der Reserve gelockt, dass ich wirklich befürchtete, nicht weiterzukommen. Aber wirklich ans Aufgeben dachte ich nie.

jetzt.de: Was hat dich gefreut?
Martina: Wenn ein Schüler nach Ewigkeiten endlich einmal sein vollständiges Federmäppchen dabei hatte, mit gespitzten Bleistiften und allem - das hat mich echt aufgebaut. Ich hatte jeden Freitag auch eine Mädchen-AG. Das waren nur fünf Mädels, aber wenn die mich schon am Montag fragten, was wir in der nächsten Stunde machen werden, dann freute mich das wahnsinnig.

jetzt.de: Sind auch neue Freundschaften entstanden?
Martina: Zum Abschied habe ich den Schülern meinen Facebook-Kontakt gegeben und wurde reihenweise geaddet. Auch mit den Kollegen bekam ich teilweise einen sehr guten Kontakt. Allein durch eine Klassenfahrt, auf der man Wasserschlachten macht und abends Tränen vom Heimweh trocknet, entwickelt sich eine enge Verbundenheit.

jetzt.de: Hat dich das Programm verändert?
Martina: Die zwei Jahre waren für mich eine wirkliche Bereicherung. Ich musste an meine Grenze gehen und lernte Schwächen kennen, denen ich mir vorher gar nicht so sehr bewusst war. Zum Beispiel brauchte ich bisher doch immer ein bisschen länger um einzusehen, wenn ich einen Fehler gemacht hatte. Im Lehreralltag wurde mir auch schnell klar, dass ich in einer ruhigen Verfassung sein muss, damit mir der Unterricht gelingt.

jetzt.de: Wie denkst du nach den zwei Jahren über Bildungsfragen?
Martina: Bildungsgerechtigkeit ist über alle politischen Lager hinweg relevant. Ich glaube, es sind sich auch alle einig, dass für die Bildung mehr Geld in die Hand genommen werden muss. Da läuft im Moment einfach was schief.

jetzt.de: Was?
Martina: Die Ausstattung der Schulen muss besser werden. Bei uns gab es alte Rechner, die ständig kaputt gingen. Oder in einem Klassenzimmer tropfte oft Wasser durch die Decke. Dafür wird Geld gebraucht. Natürlich muss auch das Personal aufgestockt werden. Bei uns fiel sehr viel Unterricht aus, Lehrer mussten während der Stunde Konflikte lösen und hatten deshalb keine Zeit, den Unterricht fortzusetzen. Deshalb glaube ich, dass viele Klassen zwei Lehrer bräuchten, die sich abstimmen können. Wie in jedem normalen Betrieb müsste es auch öfter Feedbackgespräche geben, damit sich die Pädagogen weiterentwickeln können.

jetzt.de: Zurzeit kann man sich für den nächsten Teach-First-Jahrgang bewerben. Wem würdest du das Programm empfehlen?
Martina: Erfahrungen im sozialen Bereich sind, glaube ich, entscheidend. Wer denkt, durch eine Teilnahme nur seinen Lebenslauf aufzubessern, liegt falsch. Genauso sollten es Leute lassen, die nach ihrem Abschluss einfach nicht entscheiden können, was sie machen sollen. Aber Studenten, die sich an dieser Bildungsmisere stören, die mit ihrem Werdegang selbst Glück hatten und Schülern diese Chance auch geben wollen - die sind genau richtig. Man sollte auch wirklich keine Angst haben, dass es gleich zwei Jahre sind. Diese Zeit vergeht wie im Flug.

jetzt.de: Wie geht es für dich jetzt weiter?
Martina: Zurzeit packe ich meine Kisten und ziehe von Essen nach Köln, um bei der Deutschen Post DHL zu arbeiten.



Text: steffi-hentschke - Foto: privat

  • teilen
  • schließen