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Das fliehende Klassenzimmer

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Kaori Shiga, 18, erinnert sich genau an ihren letzten Schultag an der Deutschen Schule Tokio Yokohama (DSTY). Dort werden 480 Schüler unterrichtet, viele haben deutsche Eltern, viele haben aber auch, wie Kaori, japanische Eltern, die lange in Deutschland lebten. An jenem Freitagnachmittag Mitte März also sitzt Kaori im Chemieunterricht. Sie geht in die 12. Klasse und will in wenigen Wochen ihr Abitur an der DSTY machen. Ihr Klassenlehrer Philipp Wehmann arbeitet gerade im Lehrerzimmer, der stellvertretende Schulleiter Peter Alexander unterrichtet eine der jüngeren Klassen. Es ist ruhig auf den Gängen.

  Dann setzt das Erdbeben ein. Bereits nach wenigen Sekunden kriechen die ersten Schüler unter ihre Schultische, wie sie es gelernt haben. „Ich bin Erdbeben von klein auf gewöhnt“, sagt Kaori. Sie kam in Japan zur Welt und geht seit acht Jahren auf die deutsche Schule. Auch Peter Alexander und Philipp Wehmann haben schon einige Erdbeben miterlebt. „Als Lehrer müssen wir die Zimmertür öffnen und uns unter den Türrahmen stellen“, erklärt Alexander die Vorschriften. Der Erdbebenalarm wird jährlich geprobt. Die Schüler bleiben ruhig, an jenem Freitag.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Kinder in Japan üben den Ernstfall. Ein Archivbild.

  Doch auch nach zwei Minuten hört das Beben nicht auf. Es wird sogar stärker. Dann fällt der Strom aus. Einige Schüler in Peter Alexanders Klasse werden nervös. „Schulen sind eigentlich die sichersten Gebäude in Japan“, sagt der Lehrer, der seit vielen Jahren in Japan unterrichtet. Trotzdem beginnt das Kollegium damit, die Lehrer aus dem Gebäude zu evakuieren. Als Schüler und Lehrer schließlich vor dem Schulgebäude versammelt sind, ist es immer noch nicht vorbei. „Das Gebäude, die Erde, alles wankte noch“, erinnert sich Philipp Wehmann. Verängstigte Kinder werden von Lehrern beruhigt, die ersten Eltern kommen zum Schulgelände.

  Als kurze Zeit später eine atomare Katastrophe droht, werden die Lehrer angewiesen, das Land zu verlassen. Sie sind der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen im Bundesverwaltungsamt unterstellt und folgen deren Anweisungen. „Da das Auswärtige Amt zu einer Ausreise aus Japan riet, musste die Schule geschlossen bleiben“, erklärt Annette Beaumart vom Bundesverwaltungsamt (BVA). Auch Kaori verlässt das Land, sie fliegt zu Freunden nach Deutschland. Ihre Eltern bleiben in Japan. Philipp Wehmann bloggt seine Erlebnisse unterdessen auf seiner Webseite. Um seinen Schülern als Vertrauensperson erhalten zu bleiben, beschließt er etwas Ungewöhnliches. „Ich wusste: Alle meine Abiturienten der Klasse zwölf sind bei Facebook, aber nicht mit mir befreundet.“ Er schreibt ihnen eine unverbindliche Nachricht: „Wenn ihr den Kontakt möchtet, bin ich für euch da, aber ich möchte mich nicht aufdrängen.“ Innerhalb von zehn Stunden haben ihm seine Schüler Freundschaftsanfragen geschickt und eine gemeinsame Gruppe gegründet, um auf diese Weise schneller kommunizieren zu können. Die Schüler tauschen sich über ihre Sorgen aus und verarbeiten die Ereignisse. Schließlich besprechen sie mit ihrem Lehrer die letzten Wochen bis zum Abitur. Die eigentlichen Abiturprüfungen waren schon geschrieben, die Halbjahresklausuren in den einzelnen Fächern standen aber noch an.

  „Die Abiturienten hatten zum Zeitpunkt des Erdbebens noch fünf Wochen Schulunterricht zu besuchen, um ihre Abiturprüfungen formal korrekt ablegen zu können“, sagt Annette Beaumart vom BVA. Deshalb wurde in Deutschland beschlossen, die 35 Abiturienten nach Deutschland zu bringen. Die in Japan verbliebenen Schüler wurden ausgeflogen und vier Wochen nach dem Erdbeben beginnt am 11. April 2011 der Unterricht an einem Kölner Gymnasium. Die Abiturienten wohnen im Gästehaus der Stadt Köln, mit ihnen Lehrer Philipp Wehmann. „Ich bin nicht ihre Aufsichtsperson“, sagt er. „Aber es war wichtig für mich, als Ansprechpartner vor Ort für sie da zu sein.“ Für die Abiturienten endet die acht- beziehungsweise neunjährige Schulzeit nun anders als gedacht. Im Gästehaus proben sie jetzt den Ernst des Lebens: Sie waschen ihre Wäsche selbst, gehen Einkaufen, Kochen zusammen und gehen in den Unterricht. „Ich dachte, das müsste ich erst im Studium lernen“, sagt Kaori und wundert sich manchmal über ihre neue Situation.

  Neben der Sorge um die Zurückgebliebenen in Japan beschäftigt Kaori und ihre Mitschüler noch etwas anderes: Wie soll die Abiturfeier aussehen, wenn in gut drei Wochen alles überstanden ist? „Bei vergangenen Feiern in Japan war es üblich, dass einige Abiturienten traditionelle Kleidung anzogen, etwa einen Kimono“, sagt Lehrer Alexander. Ganz ausfallen soll die Feier auch im Angesicht der Katastrophe nicht. „Ich finde es wichtig, dass die Schüler ihre Schulzeit richtig beenden können“, sagt Philipp Wehmann. Es soll eine offizielle Zeugnisverleihung in Köln geben, vielleicht noch eine Fahrt auf einem Rheinschiff. „Einige meiner Schulfreunde sind traurig, dass die gemeinsame Schulzeit so abrupt geendet hat“, sagt Kaori. Der gemeinsame Aufenthalt im Köln habe sie alle aber noch einmal zusammengeschweißt. „Wir können die Zeit zusammen noch einmal genießen, aber auch das Geschehene verarbeiten“, findet Kaori.

  Wird während der möglichen Rheinfahrt vielleicht jemand einen Kimono tragen? Kaori zweifelt. „Daran hat keiner von uns gedacht, als wir nach Deutschland geflogen sind. Wir müssten uns unsere Sachen schicken lassen, und das ist zu teuer und aufwendig.“  


Text: maximiliane-koschyk - Foto: dpa

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