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Das Hochschulsystem war auch früher schon absurd

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Kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember 2010, schrieb unsere Autorin Charlotte Haunhorst an dieser Stelle einen offenen Brief an ihren einstigen Lehrer, Herrn Bode.  Herr Bode hatte Charlotte immer wieder eingebläut, wie wichtig es sei, Zusammenhänge zu verstehen. Nach dem Abitur begann sie ein Bachelorstudium, in dem nicht mehr von Zusammenhängen die Rede war. Es ging allein darum, Fakten zu lernen und wiederzukauen. Charlotte war enttäuscht von der Hochschule und schrieb ihrem Lehrer von ihren Erfahrungen. Der Text war „Sie haben uns völlig falsch aufs Studium vorbereitet“ betitelt. Christian Bode hat ihn gelesen. Hier antwortert er.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


 
  Liebe Charlotte!

  Es tut mir leid! Ich konnte es nicht besser, aber ich habe eine Entschuldigung: Man hat mich völlig falsch auf das Lehrerleben vorbereitet! Begründe argumentativ! Kein Problem:
  Als ich 1989 mein Lehramtsstudium (Deutsch und Geschichte) an der altehrwürdigen Universität Göttingen begann, sah die Sache so aus: Die Professoren hatten eine großen Namen, einen noch größeren Hörsaal. Dort liefen die Vorlesungen mit mitreißenden Semesterthemen wie zum Beispiel Goethes Romane (I), Goethes Romane (II), Goethes Lyrik (I), Goethes Lyrik (II) etc. Da konnte man hingehen, aber niemand überprüfte das. Also gingen wir hin, wenn der Professor seine Sache einigermaßen an den Mann zu bringen wusste. Oder wir blieben eben weg, wenn die Vorlesungen nur aus dem Wiederkäuen der bereits in Buchform erschienenen Leib- und Magenthemen bestand und dies – wie so oft – noch dazu in einschläfernder Manier.

  Das eigentliche Studium, das fand ganz woanders statt, nämlich in den Seminaren des so genannten akademischen Mittelbaus. Hier saßen oftmals hoch motivierte und junge (wichtig!) Dozenten, die nicht selten auch noch an Schulen unterrichteten und deren Lehraufträge nicht selten zeitlich begrenzt waren. Hier gab es zumeist das, was du so schmerzlich in deinem Studium vermisst hast: Wissensvermittlung und Diskussion auf akademischem Niveau. Da ging man gern hin und am Ende stand eine Hausarbeit, bei deren Anfertigung man im Idealfall sogar noch ein wenig Betreuung erfahren konnte, wenn man es denn wollte.

  Aber um es klar zu sagen: Auch hier saßen nicht wenige studentische Dummschwätzer und Leute, die eine klar erkennbare Aversion gegen Bücher hatten und sich beharrlich weigerten, irgendetwas Sinnvolles beizutragen, die zu allem einen Standpunkt hatten, egal wie ahnungsfrei sie waren. Zumeist bekamen auch die dann irgendwie und irgendwann ihre Scheine. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es noch einige Jahre bis zur Erfindung des Internets dauerte und man keine Hausarbeiten herunterladen konnte . . .
  In diesem Punkt unterschieden sie sich nicht von den Leuten, die dir auf deinen Beitrag auf jetzt.de geantwortet haben und sich darüber wundern, dass du dich darüber wunderst, dass man ein Studium ohne Buchlektüre schaffen kann. Das nur mal dazu.

  Geprägt haben mich dennoch andere Dinge: Da war zum Beispiel ein akademischer Oberrat in Germanistik, der nie im Leben seine Doktorarbeit fertig bekommen hatte und dennoch (zurecht) Jahrzehnte lang eine menschlich geschätzte und hoch kompetente Persönlichkeit am Lehrstuhl war. Er hat es geschafft, uns zu begeistern. Er war die personifizierte Liebe zur Literatur, humorvoll, bisweilen auch anekdotisch. Ich habe mich in seinen Seminaren und darüber hinaus mit Dingen beschäftigt, von denen ich noch nie etwas gehört oder gelesen hatte. Er hat es geschafft, dass wir Studenten uns freiwillig in Lesezirkeln trafen, mit ihm Exkursionen ausarbeiteten. Der Mann war chaotisch aber ungeheuer charismatisch.

  Bleiben Sie beim Thema, Herr Bode, wirst du vielleicht sagen. Das bin ich. Ich will damit sagen, dass viele Dinge, die den Studierenden heute in der Uni so nerven, nicht nur ein Problem eurer Generation sind. Das System war auch früher schon absurd und von Widersprüchen geprägt.
  Spätestens im Examen zeigte sich dann das Symptom, das du so schön beschreibst: Es wurde ein zentrales Thema gestellt, dazu gab es eine Literaturliste (mit echten Büchern!) und dann wurde stumpf gepaukt. Fakten, Fakten, Fakten, und zwar lang schon, bevor der Focus das zu seinem journalistischen Credo machte! Ich kann mich nicht mal mehr an die Themen erinnern – soviel zum Thema akademisches Lernen damals und heute!
  Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Ich studierte ja auf Lehramt an Gymnasien. Also gab es dazu bestimmt eine fundierte pädagogische Ausbildung mit schulpraktischen Bezügen und allem drum und dran. Schön wär’s gewesen! Die Schulpraktika waren eine Farce und nur diejenigen, die das Glück hatten, hier auf erfahrene und motivierte Lehrkräfte zu treffen, haben etwas mitnehmen können. Für die anderen war die Sache schlichtweg für die Katz! Die Pädagogikseminare waren eine Reise an die Grenzen des Verstandes und der Geduld. Sie bestätigten in der Regel alle Klischeevorstellungen und übertrafen diese zumeist noch!

  Viele merkten erst später im Referendariat (viel zu spät), dass die Schule nicht ihre Sache war und standen dann nicht selten vor den Trümmern ihrer beruflichen und privaten Zukunftsvisionen. Da lief und läuft mit Sicherheit einiges schief, so viel ist sicher! Lehrer sein konnte man schon damals nicht in der Uni lernen. Für andere Berufe galt wahrscheinlich ähnliches.
  Noch ein Wort zur Schule: Dass ich euch mit dem TRANSFER so genervt habe, tut mir leid! Aber ich bin ohne Reue und würde es wieder tun! Warum? Ganz einfach: Die Schule kann (und konnte es wohl auch nie) niemanden auf sein individuelles Studium oder die Berufsausbildung vorbereiten. Vom Leben will ich gar nicht erst reden, das ist so abgedroschen.

  Das deutsche Schul- und Bildungssystem ist wie der so oft als Bild bemühte Öltanker – schwerfällig und mit langem Bremsweg, wenn es mal in die falsche Richtung geht.
  Das ist so und ich habe aufgehört, mir hier Illusionen zu machen. Die ländereigene Bildungs- und Schulpolitik ist nun mal das letzte politische Versuchsfeld, auf dem jeder und jede mal so richtig die Sau rauslassen kann, ohne dafür gleich die Quittung bei der nächsten Wahl zu bekommen. Das schafft Schmerzfreiheit und man findet auch immer eine Studie, die einem Recht gibt. Dazu bedarf es oft nur weniger preiswerter Zutaten, um hier sein eigenes ideologisches Süppchen zu kochen. Man nehme: Elternwille und Chancengleichheit, PISA und skandinavische Gesamtschulen, Zentralabitur und G8, Lernen ohne Noten, Binnendifferenzierung und Inklusion, Einheitsschule und Oberschule, Fördern und Fordern, Soziologengeschwafel und Finanzierungsvorbehalt, das Ganze einmal kurz aufkochen lassen, fertig ist die Schulpolitik. Freilich nur bis zur nächsten Schulreform. Das Schöne an Schule ist eben auch: Jeder kennt sich damit aus, denn jeder war mal da.

  Ach Charlotte, was soll ich dir noch Tröstliches sagen? Vielleicht tröstet es dich ein wenig, wenn ich dir sage, dass das niedersächsische Zentralabitur in weiten Teilen inzwischen eine wahrscheinlich recht gute Vorbereitung auf die Lehr- und Lernstrukturen „eurer“ Universitäten geworden ist: Enge Rahmenthemen, viel Lernstoff für die Schüler, genußarme aber gut verdauliche Häppchenliteratur für intellektuell Unbedarfte, ein knapper Zeitplan und in Korrekturen und Dokumentationszwängen erstickende Lehrer. Das lässt Lehrende und Lernende zu einer echten Schicksalsgemeinschaft werden! Das Zauberwort ist dabei neuerdings „Kompetenzorientierter Unterricht“. Soll heißen: Wichtig ist nicht so sehr, dass ich wirklich inhaltlich etwas lerne, sondern dass ich weiß, wie ich das im Ernstfall organisieren könnte, falls Wikipedia mal ausnahmsweise nicht weiter weiß oder mein Internetanschluss Probleme macht.

  Charlotte, ich bleibe dabei: Du schaffst es schon! Den von dir so vermissten Transfer hast du schon selbst geleistet. Du hast erkannt, dass Lehranstalten und universitärer Massenbetrieb einem niemals das vermitteln können, was in einem selbst als Talent und Passion angelegt ist und wofür man sich zu engagieren bereit ist. Hier können alle bildungspolitischen Anstrengungen nur Hilfestellung sein. Nicht mehr und nicht weniger.
Da höre ich schon wieder welche rufen: Pfui! Wie kann der Lehrer das so sagen?! Das ist gegen unsere Ideale! Kann sein. Höre da einfach nicht hin, ich tue es schon lange nicht mehr. Gehe deinen Weg und lass dich nicht verbittern, ich bin es auch nicht.
  Es grüßt dich dein Lehrer von einst
  Christian Bode

Mehr zum Thema auf jetzt.de:

*** Hier kannst du den Brief von Charlotte nachlesen, auf den Lehrer Bode antwortet.
*** Hier hat die jetzt-Userin suesswarenabteil ihrer Bachelor-Erfahrungen notiert.
*** Und hier schreibt Mercedes Lauenstein, warum sie gar nicht erst auf die Uni geht.


Text: jetzt-redaktion - Foto: suze/Photocase

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