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Das Mehr an Freiheit: Leben in der Integrativ-WG

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Markus öffnet ein wenig unbeholfen den Kühlschrank und untersucht ausgiebig den Inhalt. Er steckt seinen Kopf samt dem weißen Baseballcap soweit hinein, als wollte er ihn in einem der Fächer neben Butter und Salami ablegen. Ohne das Richtige gefunden zu haben, schlurft er aus der Küche. Sein Lachen, dessen Grund wohl nur er allein kennt, verliert sich im Gang. Markus ist 36 und geistig behindert. Er lebt am Münchner Stadtrand in einer sogenannten integrativen Wohngemeinschaft. Fünf Menschen mit unterschiedlichen geistigen Behinderungen und vier Studenten teilen sich die zwei Stockwerke in einem der Reihenhäuser der Sozialbausiedlung in München-Großhadern.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die halbe WG im Wohnzimmer (v.l.): Markus, Ralf, Benny, Claudi und Michael (sitzend) Jeder hat sein eigenes Zimmer, nicht gerade riesig, aber auch weit entfernt von der Besenkammergröße der Zimmer manches Studentenwohnheims. Dazu kommen Küche, Ess- und Wohnzimmer und sogar ein kleiner Garten. Dass es sich um keine gewöhnliche WG handelt, verraten eigentlich nur die behindertengerechten Bäder, die Fotos der Bewohner im Gang und die kindlichen Zeichnungen, die an den Küchenschränken hängen. In erster Linie Mitbewohner „Mach mal deinen Hosenstall zu! Da stinkt’s raus“, so wird Markus in feinster Jungsmanier empfangen, als er sich wieder an den blauen Schrank der kleinen Einbauküche lehnt und sich einer Tüte Gummibärchen widmet. Manchmal wirkt es recht schroff, wie Ralf, ein gemütlicher Kerl mit rotem Rauschebart, mit Markus umspringt. Außenstehende könnten sich darüber vielleicht wundern, dass er einen geistig Behinderten für eine offene Hose derart schräg anredet. Aber solche Überlegungen über Political Correctness spielen hier wohl keine Rolle. Man ist sich in erster Linie Mitbewohner. Das Verhältnis „Behinderter zu Nichtbehinderter“ ist darüber längst in den Hintergrund getreten. Die vier Studenten wohnen hier umsonst, lediglich 110 Euro Haushaltsgeld müssen sie monatlich bezahlen. Ein Zivi geht davon einkaufen, man kann ihm sogar kleine Sonderwünsche auftragen. Die Gemeinschaftsräume und die Zimmer der behinderten Bewohner reinigt eine Putzfrau. Als Gegenleistung für diese Annehmlichkeiten und ihre Mietbefreiung übernehmen die Studenten verschiedene Dienste. Sie haben je eine Früh-, eine Spät- und eine Nachtschicht pro Woche, dazu kommt außerdem ein Wochenenddienst im Monat. Mit Pflege hat der Dienst nichts zu tun. Hier und da hilft man zwar mal ein bisschen beim Anziehen, hauptsächlich geht es aber darum, bei alltäglichen Tagesabläufen eine Stütze zu sein. Die Bewohner mit Behinderung sollen ihr Leben so selbständig wie möglich führen, das ist die Grundidee und der Zweck der Wohngemeinschaft. So müssen auch sie Verantwortung tragen und mit den Studenten einen Dienst übernehmen. Man macht gemeinsam Frühstück, schnippelt Gemüse für das WG-Abendessen und sorgt dafür, dass jeder pünktlich aus dem Haus und zur Arbeit kommt. Die Behinderten arbeiten in Werkstätten oder als Küchenhilfen. Am Wochenende fällt die Freizeitgestaltung etwas ausführlicher aus, dafür steht unter anderem ein WG-eigener Kleinbus zur Verfügung. Mal gehen sie Eis essen, mal fahren sie an den See oder in den Tierpark. Heute stand Reiten an, erzählt Ralf und erntet eines von Markus markanten, gurgelnden Lachen. Sollte einer der Behinderten keine Lust haben, ist das aber auch in Ordnung, fügt er hinzu: „Wie in allen WGs kann hier jeder machen, was er will und seinen eigenen Lebensentwurf verfolgen.“ Vinci zum Beispiel, der auch heute in Jogginghose in seinem leicht abgedunkelten Zimmer vor dem Fernseher lümmelt, verpennt gerne das halbe Wochenende und spielt Playstation.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ärgern sich gerne gegenseitig: Markus und Ralf Hinter dem ungewöhnlichen WG-Konzept steht der Verein Gemeinsam Leben Lernen, entstanden aus einer Initiative von Eltern mit geistig behinderten Kindern. 1989 gründeten sie mit Unterstützung des Sozialreferats der Stadt die erste der mittlerweile vier Münchner Wohngemeinschaften, um geistig behinderten Menschen eine möglichst selbstständige Lebensweise zu ermöglichen. Gleichzeitig hatte man aber auch den Anspruch, zu einer natürlicheren Umgangskultur zwischen Menschen mit und ohne Behinderung beizutragen. Wenn man sieht, wie normal, wie kumpelhaft die neun Bewohner in der Küche oder auf der blauen Wohnzimmercouch sitzen, miteinander blödeln und den abendlichen Konzertbesuch planen, scheint das gelungen. Die WG bekommt auch oft Besuch. Freunde und Bekannte der Studenten gehen ein und aus, man isst zusammen an dem ausladenden Holztisch im Esszimmer oder macht es sich in der Couchecke im Wohnzimmer bequem – wie in jeder anderen Wohngemeinschaft auch. Auf Seite Zwei erfährst Du, warum die pädagogische Leitern die WG für besser hält als Behindertenwohnheime und wie sich der neue Mitbewohner Benny in die Gemeinschaft einfügt.


Das Mehr an Freiheit Gemessen am Erfolg und dem langjährigen Bestehen des Vereins hat sich das Konzept bundesweit noch nicht sehr weit verbreitet. Erst seit rund zwei Jahren regt sich ein wenig Interesse, und die Münchner bekommen seitdem hin und wieder Besuch von Menschen, die ebenfalls eine WG-Gründung in Erwägung ziehen. „Das Konzept funktioniert sehr gut“, sagt Karina Reul, die pädagogische Leitern der Wohngemeinschaft. Die 30-Jährige arbeitet hier 40 Stunden pro Woche in einem kleinen Büro, das sich im ersten Stock der Wohngemeinschaft befindet, und kümmert sich dort um alles Organisatorische, hält regelmäßigen Kontakt zu den Eltern der behinderten Bewohner und übernimmt für sie Behördengänge. Der entscheidende Vorteil integrativen Wohnens ist für Karina Reul das Mehr an Freiheit, das die geistig Behinderten in einer integrativen Wohngemeinschaft genießen: „Hier können sie ganz selbstbestimmt leben und sind vor allem wirklich in eine Gemeinschaft mit Nichtbehinderten integriert. In einem Heim oder bei ihren Eltern wäre das so nicht möglich.“ Für Menschen mit Behinderung wäre ein Zuwachs an integrativen Wohngemeinschaften in Deutschland wünschenswert. Die Wohngemeinschaften sollen ihnen nämlich lebenslang ein Heim bieten. In München-Großhadern gab es erst ein einziges Mal einen Wechsel bei den behinderten Bewohnern, erzählt Ralf. Die meisten wohnen schon hier, seit die WG existiert – wie Markus. „Elf Jahre“, ruft er stolz in die Runde. Bei den Studenten in der WG hingegen ist die Fluktuation höher. Wer sein Studium beendet und ins Berufsleben übertritt, ist nicht mehr flexibel genug und kann deswegen die Zeit für die Dienste oft nicht mehr aufbringen. Heute Abend haben Ralf und Markus den Dienst. Als sie den Tisch für das Abendessen decken, stellen sie einen Teller mehr als sonst auf den Holztisch. Denn Benny ist heute frisch eingezogen und verbringt seinen ersten Abend in der WG. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Michael hat der Schauspielschüler keinerlei Erfahrung im Umgang mit geistig behinderten Menschen. Gedanken macht er sich deswegen aber keine. Er findet die Wohnung gemütlich, und hat sich von Anfang an mit allen verstanden. Zwei Stunden saßen sie bei seinem Vorstellungstermin in der Küche, vor lauter Sich-Unterhalten kamen sie gar nicht mehr dazu, Benny seine Pflichten zu erläutern. Ein gutes Zeichen. Denn menschlich gut miteinander zurecht zu kommen ist hier noch wichtiger als sonst im Leben, findet Michael, der die Wohngemeinschaft jetzt verlässt. Er hat drei Jahre hier gewohnt, fast sein ganzes Studium über. „Man wohnt nicht einfach nur im selben Haus“, sagt er, „man arbeitet hier gewissermaßen eben auch miteinander.“ Ob ein Bewerber für die besondere Wohngemeinschaft geeignet ist oder nicht, erkenne man auch relativ schnell daran, wie er mit seinen potentiellen Mitbewohnern umgehe: „Viele Bewerber reagieren mit Befremden und wissen erstmal gar nicht, wie sie sich verhalten sollen, wenn ihnen einer der Behinderten die Hand hinstreckt oder sie anspricht.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der Neue und das Bier: Benny und Markus sitzen in der WG-Küche Bei Benny zeigt sich davon keine Spur. Sein Problem ist derzeit eher, das Chaos in seinem neuen Zimmer zu beseitigen. Er wird in den ersten Stock ziehen, doch dort türmen sich sowohl seine Umzugskartons als auch die noch nicht abtransportierten Restbestände von Michaels Einrichtung. Die beiden verschwinden nach oben in ihren Kartondschungel. Zurück bleiben die beiden Diensthabenden Markus und Ralf. Es ist jetzt an der Zeit, das Gemüsezu schneiden. Momentan ist Markus allerdings noch anderweitig beschäftigt. Wie so oft hat wieder etwas völlig Nebensächliches seine Aufmerksamkeit erweckt und lässt ihn nicht mehr los: Diesmal ist es Ralfs offene Birkenstock-Sandale, die plötzlich seinen schlummernden Ordnungssinn auf den Plan ruft. Ohne dessen Protesten große Beachtung zu schenken, nestelt er an ihrem Verschluss herum und schließt ihn. Dann schlurft er zufrieden zum Kühlschrank, um darin eine weitere Inventur vorzunehmen. Fotos: Maria Dorner

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