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Der 200-Seiten-Blogeintrag

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Julia Schramms Vorwort könnte auch eine verfrühte Rechtfertigung für alles sein, was danach kommt. Der Leser werde sie „in größter Disharmonie“ mit sich selbst erleben, schreibt sie, „und das ist wichtig, denn harmonische Systeme sind dumm.“ Schramm, 26, studierte Soziologin und Beisitzerin im Bundesvorstand der Piratenpartei, erzählt in „Klick mich – Bekenntnisse einer Internetexhibitionistin“ von ihrem Leben im Netz. Sie bewegt sich damit irgendwo zwischen Sachbuch, Roman und Autobiografie und beschert einem tatsächlich kein harmonisches Leseerlebnis.

Mit Disharmonien hat Julia Schramm auch in ihrem öffentlichen Leben oft zu tun. Die Piratin sieht sich immer wieder mit Vorwürfen der Mediengeilheit und Bäumchen-wechsel-dich-Mentalität konfrontiert. Der Blogger Malte Welding bezeichnet ihre Haltung als „geistiges Tumbleweed“. Die bekannteste Episode handelt von ihrem Intermezzo mit der „datenschutzkritischen Spackeria“, die sich für die Post-Privacy-Gesellschaft einsetzt. „Im Internet ist es eben vorbei mit der Privatsphäre“, sagte Schramm überzeugt, um sich kurz darauf von der Spackeria abzuwenden und zu bekennen: „Ich verstehe jetzt die Funktion von Datenschutz“. Man warf ihr Opportunismus vor, da die datenschutzkritische Position bei den Piraten nicht mehrheitsfähig gewesen wäre. Ähnlich rasant verlief Schramms Entwicklung von der Anti- zur Piratenfeministin. Der Feminismus war bei den Piraten lange verschrien, der Begriff „Piratin“ wurde abgelehnt, der generische Maskulin galt als absolut neutral. Schramm unterzeichnete sogar einen offenen Brief der Antifeministen der Piratenpartei. Doch dann erklärte sie in einem Podcast zum Thema, dem Feminismus doch etwas abgewinnen zu können, man müsse dabei allerdings nicht nur gegen weibliche, sondern auch gegen männliche Stereotype ankämpfen. Heute nennt sie sich Feministin, genauer: Post-Gender-Feministin.

Alle Meinungen sowie Meinungsänderungen kann man live über Schramms Blog und ihre Tweets verfolgen. Die eigentliche Piraten-Politik kommt hinter dem ganzen Gereiße um ihre Person, das sie mir ihrer großen Mitteilungsfreude anstachelt, oft zu kurz. Und auch der Inhalt ihres Buches wird möglicherweise in einer großen Meta-Diskussion untergehen – immerhin hat Schramm geistiges Eigentum einmal als „ekelhaft“ bezeichnet, soll dann aber laut FAZ von ihrem Verlag einen Vorschuss von mindestens 100 000 Euro bekommen haben.

Die Aufmachung des Buches selbst erzeugt auch wieder so einen Widerspruch. Die feministische Haltung der Autorin und das Cover mit der kurvigen Frauensilhouette und dem süffisanten Titel passen eigentlich nicht zusammen. Inhaltlich geht es dann auch etwas spröder zu. In 15 Kapiteln zeichnet Schramm ihr Leben im Internet nach, in dem sie sozialisiert und politisiert wurde. Die These jedes Kapitels („Wenn Kinder Gewalt im Netz sehen, werden sie nicht zu Kettensägenmördern“ oder „Nicht das Internet beendet Freundschaften, Freunde tun es“) wird zu Anfang in einem kursiv gesetzten Absatz zusammengefasst. Das gibt etwas Struktur. Dann wird das Thema anhand Geschichten aus der Lebenswelt der Autorin und langer Reflexionsabsätze abgearbeitet – die dabei auftauchenden Personen, die sich alle „auf echte Menschen beziehen“, werden sicher Anlass zu Spekulationen bieten, wen aus ihrem illustren politischen Umfeld Schramm hier verarbeitet hat. Der Stilmix ist verwirrend: Erzählpassagen mit hölzernen Personenbeschreibungen und Phrasen wie „schwungvoll lasse ich mich neben den beiden nieder“, fiktive Chat- und Twitter-Protokolle und immer wieder ellenlange Reflexionsparts, die an Schramms Blogeinträge erinnern. Sie flicht Fremdworte sowie große Namen (Adorno! Hegel! Kant!) ein und erzeugt einen intellektuellen Ton, der einem das Gefühl gibt, gerade geblendet zu werden. Am anstrengendsten wird das, wenn diese Überlegungen zum digitalen Weltgeschehen als Dialoge verkleidet sind. Dann führen die Protagonisten irrwitzige Streitgespräche, die genau so klingen wie Schramms Gedankenergüsse.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Julia Schramm

Das Internet, sagt Schramm, sei ihre „Heimat“, für deren Freiheit sie kämpft. Mit dem mehrfach verwendeten Kampf-Begriff stilisiert sie sich zur nerdigen Kriegerin des Digitalen, die gegen Nationen und für eine Welt ist, in der jeder uneingeschränkten Zugang zu Wissen hat. Leider kommt sie meist trotz aller Grübeleien nicht über ihr eigenes Leben hinaus.

Manchmal blitzt Interessantes auf. Zum Beispiel der digitale Revolutionär aus dem Nahen Osten und wie Internetaktivisten in Deutschland ihm dabei helfen, die Welt mit Informationen aus umkämpften Gebieten zu versorgen. Oder die Feststellung, dass es sich im Netz als Frau leichter diskutiert, wenn man ein männliches Pseudonym wählt. Aber all das ist immer viel zu schnell vorbei. Gleich ist man wieder bei den vielen Fragen, die Schramm zur digitalen Welt stellt und auch nicht richtig beantworten kann, oder einer Idee, die ihr „durch den Kopf schießt“. Und hat eigentlich nichts gelernt.

Außer man ist Mitte 60. Denn vielleicht, das ist nur ein Verdacht, hat sie das Buch für die grauen Eminenzen geschrieben, die diese ganze Internet-Sache ja angeblich nicht verstehen. Dafür würde auch das Glossar sprechen, in dem sogar der Begriff „offline“ erklärt wird. Denen, die in den Achtzigern geboren und ebenfalls mittelständisch und mit Internetzugang aufgewachsen sind, kann Schramm jedenfalls nichts Neues mehr erzählen. Weil jeder von ihnen mit 15 im Chat mit Identitäten herumgespielt und sich einen Großteil seines Wissens und seiner Informationen von jeher online zusammengelesen hat.

Schramm wäre vielleicht gerne die Stimme einer neuen digital-politischen Generation. Aber wenn dann ihre Kampfansage für „wahre Demokratie“ am Ende des Buches mit „Ein Weltveränderungsmanifest ohne weltbewegende Erkenntnisse“ überschrieben ist, hat man wie schon nach dem Vorwort das Gefühl, dass sie sich nicht so richtig traut, für eine Meinung einzustehen. Lieber alle Optionen offenlassen, vielleicht ist morgen etwas anderes besser. Darum ist „Klick mich“ bei allem, was es zu sein versucht, am Ende doch nur der 200 Seiten lange Blogeintrag einer Mittzwanzigerin, die gerne Politik machen und etwas bewegen will, aber derzeit noch zu viel darüber nachdenkt, was genau. Unter einen ihrer Reflexionsabsätze hat Schramm einen Satz gesetzt, der als Programm für den ganzen Text gelten kann: „Ich freue mich über meine Gedanken.“ Ja, Julia Schramm, das merkt man.

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