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Der Geschmack ihrer Kindheit

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Was Loan schade findet: dass man in einem Restaurant in Deutschland keine Hühnerfüße verkaufen kann. Und Schweineohren auch nicht. „Wir Vietnamesen lieben das, wenn etwas knorpelig ist und man lange darauf herumkauen kann. Aber die Deutschen essen das nicht.“ Stattdessen stehen auf Loan Ngo Thuy Bichs Speisekarte Sommerrollen aus Reispapier gefüllt mit Fleisch und frischem Lauch, so genannte „Phos“, feine Nudel- und Reissuppen, Zitronengrastee, Weißwein, aber auch Weißbier. Das kleine Restaurant namens „Rice“ in der Kohlstraße am Baaderplatz ist schlicht eingerichtet. Auf dem Beton-Boden stehen sechs quadratische, hölzerne Tische, am Eingang eine Bar. Es ist 15 Uhr – Loans freie Zeit. Seit Eröffnung im vergangenen November steht sie um halb zehn auf, erledigt Einkäufe, putzt und bereitet vor. Von 11.30 Uhr bis 14.30 Uhr bedient sie ihre Gäste und dann wieder von 18 Uhr bis Mitternacht. Sieben Tage die Woche ohne Ruhetag. „Ich bin oft todmüde“, sagt sie. „Aber sobald ich mit Gästen zu tun habe, werde ich wach.“ Die Rezepte entwirft sie selbst, beim Kochen hilft ihr eine Vietnamesin. „Für eine Servicekraft ist leichter Ersatz zu finden als für eine Köchin“, sagt sie. „Falls einer von uns beiden krank wird.“ Der Wunsch, ein Restaurant zu eröffnen, wuchs in ihr, als sie vor zwei Jahren Vietnam zum ersten Mal wieder sah. Ein Geruch an einer Straßenecke, der Duft einer Garküche , der vertraute Geschmack eines vergessenen Gerichts – Loan kann sich an keinen Namen, kein Wort erinnern, aber sie erkannte den Geschmack ihrer Kindheit wieder. 1986, Ho-Chi-Minh-City – Loan ist acht Jahre alt. Zwei Fluchtversuche hat die Familie hinter sich, jedes Mal ging der Plan schief. Dieses Mal soll es Loan alleine versuchen. Mit ihrer Mutter fährt das Mädchen nachts das Mekong-Delta hinab bis zur Küste. Die Achtjährige besteigt ein kleines Fischerboot mit 30 anderen Personen. „Mir war damals nicht bewusst, dass ich meine Mutter vielleicht zum letzten Mal sehe“, sagt sie heute. Was ihr auch nicht bewusst ist: Loan wird zu einem der so genannten „Boat People“, vietnamesischen Flüchtlinge, deren Bilder um die Welt gehen. „Damals“, sagt Loan, „erzählte man sich immer wieder von einem geheimnisvollen Schiff, das die Flüchtlinge aufnimmt.“ Einenhalb Wochen treibt ihr Boot auf dem offenen Meer. Die Passagiere sind dem Tod nahe. Die Rettung ist ein deutsches Schiff namens „Cap Anamur“. An Bord ist auch ein junges Ehepaar aus München, das einen Dokumentarfilm über die Flüchtlinge dreht. Mehrere Wochen verbringt Loan in einem Auffanglager in Manila. Dann nehmen sie die Nachbarn der Dokumentarfilmer in Pflege, die ihr Schicksal nicht vergessen können. Am 28. August 1986 kommt Loan nach Deutschland. „Es war kalt und hat geregnet.“ Loan wächst in Starnberg auf. „Zum Glück hatte das Haus eine Fußbodenheizung“, sagt sie und lacht. „Ich kannte ja kein Federbett. In Vietnam schlafen die Leute zu viert oder zu fünft in einem kleinem Raum.“ Es dauert eine Zeit, bis Loans neue Eltern sie davon überzeugen können, nicht mehr auf dem Fußboden zu schlafen und auch kein Essen im Zimmer zu verstecken, es ist genug da.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Loan hat lange als Angestellte gearbeitet und neben ihrer regulären Arbeit in der Gastronomie gejobbt. Viele träumen den Traum, ein eigenes Lokal zu eröffnen, die wenigstens tun es wirklich und noch weniger wissen, wie viel Arbeit auf sie zukommt. Im vergangenen Sommer verbringt Loan ihre freie Zeit damit, durch München zu radeln und nach potenziellen Läden Ausschau zu halten. Sie freundet sich mit den Gemüsehändlern an, „denn die wissen immer, wenn wo was frei ist.“ Schließlich erfährt sie von einer alten Kneipe am Baaderplatz, die schließen soll. Loan nimmt einen Kredit in Höhe von 40 000 Euro auf und beginnt mit Freunden zu arbeiten. Sie reißen den Boden heraus, schleifen die Türen ab und zimmern eine Bar. Dann beginnt der Weg durch den Dschungel der Vorschriften: Wo ist die Abluftanlage? Ohne Abluftanlage riecht es überall nach Essen, deswegen dürfen in Lokalen ohne solche Geräte nur aufwärmbare Gerichte angeboten werden. Eine solche Anlage aber kostet 30 000 Euro. Zu viel Geld. Loan recherchiert im Internet und findet heraus, dass die McDonalds-Filiale am Stachus eine neuartiges Gerät benutzt, das nur 10 000 Euro kostet. Ein solches ist für sie gerade noch finanzierbar. Im Sommer dürfen keine Tischen draußen stehen, weil der Bürgersteig nicht breiter als 1,60 Meter ist, am Baaderplatz könnten sie stehen, aber eine Genehmigung ist nicht sicher, weil der ein paar Meter zu weit vom Lokal entfernt ist. Will sie eine Markise anbringen, muss „Luftsteuer“ bezahlt werden und die Leuchtreklame vor dem Eingang in Form zweier Essstäbchen muss auch noch genehmigt werden. „Vielleicht“, sagt Loan, „bin ich durch meine Lebensgeschichte ein bisschen selbstständiger geworden. Auf jeden Fall ist für mich vieles nicht so selbstverständlich. Ich weiß noch, wie arm meine Eltern früher waren.“ Wenn die 32-Jährige heute von ihren Eltern spricht, ist das ein wenig verwirrend, weil Loan jeweils zwei von ihnen hat: die deutschen und die vietnamesischen. 1994 kommt auch ihre vietnamesische Familie nach Deutschland – allerdings nicht nach München sondern nach Norddeutschland. Eine enge Beziehung baut die damals 16-Jährige zu ihrer alten Familie nicht mehr auf. „Wir haben ein gutes Verhältnis, aber wahrscheinlich ist die Zeit zwischen acht und 16 zu prägend gewesen. Außerdem habe ich viel von der deutschen Mentalität übernommen.“ Vietnamesen diskutierten nicht, dort werde es eben einfach so gemacht. Und dann sagt Loan, was die Deutschen oft über die Deutschen hören: dass sie pünktlich sind, genau und ordentlich. Ihre Köchin ist so alt wie sie, Mutter zweier Kinder und erst seit ein paar Jahren in Deutschland. „Wir haben eine unterschiedliche Mentalität. Ich finde in der Küche muss ein Topf immer an derselben Stelle stehen. Dann verschwendet man keine Zeit, um ihn zu suchen, wenn es schnell gehen muss.“

Text: philipp-mattheis - Foto: Juri Gottschall

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